Die Friedensbewegung von 1960 bis heute: ein ständiger Kampf für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz

Autore del rapporto
Anna Katharina
Funk
Universität Bern
Citation: Funk Anna Katharina: « Die Friedensbewegung von 1960 bis heute: ein ständiger Kampf für mehr Sichtbarkeit und Akzeptanz », infoclio.ch Tagungsberichte, 07.08.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0331>, consulté le 08.08.2025

Verantwortung: Timeo Antognini

Referierende: Timeo Antognini / Aline Müller / Pascal Lottaz

Kommentar: Laurent Goetschel

 

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Warum braucht die Friedensbewegung mehr Sichtbarkeit in Öffentlichkeit und Forschung? Mit die­ser Frage eröffnete TIMEO ANTOGNINI (Fribourg) das Panel «Die Friedensbewegung von 1960 bis heute». Er betonte zunächst, dass der Grossteil der Forschung zu Friedensbewegungen vom Ende der 1980er Jahre stamme und demnach nicht auf dem neuesten Stand sei. Die Friedensbewegung besitze allerdings angesichts der gegenwärtigen Aufrüstung in Europa und der damit verbundenen Spaltung der Friedenskräfte eine besondere Relevanz – auch für die Geschichtswissenschaft. Vor diesem Hintergrund setzte sich das Panel ausführlicher mit der Frage auseinander, wie Spannungen innerhalb der deutschschweizerischen Friedensbewegung und Sozialdemokratie unterschiedliche Auffassungen von «Frieden» offenlegen.

Im ersten Beitrag befasste sich Antognini mit christlichen Organisationen, die die Friedensbewe­gung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst prägten. Anhand der Religiös-Sozialen Vereinigung und der Neuen Religiös-Sozialen Vereinigung und deren Publikationsorganen Neue Wege sowie Der Auf­bau ging er exemplarisch der Frage nach, wie sich interne Konflikte in der deutschschweizerischen Friedensbewegung an der Frage der Positionierung bei internationalen Konflikten entzündeten. Da­bei machte Antognini zwei Phasen aus: Von 1945 bis in die 1980er Jahre diskutierten die Organisati­onen den Positionsbezug gegenüber der Sowjetunion. In dieser Phase nahm die Religiös-Soziale Ver­einigung eine blockfreie Position ein und lehnte Antikommunismus ab. Die Neue Religiös-Soziale Vereinigung dagegen vertrat eine pro-westliche und antikommunistische Position. In der zweiten Phase ab den späten 1980er Jahren stand hingegen die Haltung gegenüber militärischen Interven­tionen im Namen der Menschenrechte und des liberalen Internationalismus im Vordergrund. Als Bei­spiele nannte Antognini die Positionsbezüge in der Jugoslawien- und der Ukrainefrage, wobei er eine Kontinuität zur ersten Phase feststellte: Hinsichtlich der Frage, ob militärische Interventionen im Namen der Menschenrechte gerechtfertigt seien, sprachen sich einige Stimmen in blockfreier Tra­dition für eine friedliche Koexistenz von Nationalstaaten unterschiedlicher Systeme aus, während andere Stimmen Interventionen im Namen der Demokratieförderung einforderten. Die Spannungen zwischen antikommunistischen und blockfreien Positionen, so Antogninis zentrale These, lebten folglich auch in der zweiten Phase fort.

ALINE MÜLLER (Genf) untersuchte in ihrem Referat Verbindungen zwischen feministischen und an­timilitaristischen Positionen in den frühen 1980er Jahren in der Schweiz. Anhand der öffentlichen Diskussionen um den Bericht Die Mitwirkung der Frau in der Gesamtverteidigung (1979) von Andrée Weitzel zeigte Müller Unterschiede zwischen Friedens- und Frauenbewegung auf. Nach ersten Pro­testen ab 1981 gegen die Integration von Frauen in die Gesamtverteidigung, die der Bericht propa­gierte, intensivierte sich die feministische und antimilitaristische Mobilisierung ab 1983. So zeigten sich während einer Pressekonferenz vom 21. Januar 1983 gegen den Bericht unterschiedliche Vor­stellungen von «Frieden» und den Aufgaben von Frauen zur Friedensförderung. Die Diskussionen während der Pressekonferenz unterstrichen laut Müller, dass sich Frauen in den 1980er Jahren nicht nur mit nuklearer Aufrüstung, sondern auch mit dem Militär und einer zunehmenden «Militarisierung der Gesellschaft» auseinandersetzten. Dabei wählten Pazifistinnen und radikale Feministinnen un­terschiedliche Strategien, wie Müller herausarbeitete: Die pazifistischen Frauen für den Frieden ver­traten auf der einen Seite ein breites Verständnis von Frieden – nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als Einsatz für Demokratie und soziale sowie ökologische Gerechtigkeit. Radikale Feminis­tinnen auf der anderen Seite grenzten sich sowohl vom Weitzel-Bericht als auch von den Frauen für den Frieden ab, indem sie deren Assoziierung von Frauen mit Frieden ablehnten und die Armee als sexistische, patriarchale und antidemokratische Institution kritisierten.

PASCAL LOTTAZ (Tokio) widmete sich im dritten Beitrag der schweizerischen Sozialdemokratie und deren Friedens- und Sicherheitspolitik. Er präsentierte vorläufige Überlegungen zur Frage, wie die Diskrepanz zwischen den ideologischen Grundsätzen einer sozialdemokratischen Friedenspolitik in der Schweiz und dem tagespolitischen Geschäft im Hinblick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu erklären sei. So vertrete das sozialdemokratische Parteiprogramm von 2010 einer­seits eine starke pazifistische und anti-militaristische Haltung, da die Abschaffung der Armee be­fürwortet und für eine Beseitigung von Kriegs- und Gewaltursachen plädiert werde. Andererseits po­sitioniere sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) im Krieg zwischen Russland und der Ukraine in ihrer Resolution vom August 2023 aufseiten der Ukraine. Lottaz schlug verschiedene An­sätze und Quellenkorpora vor, um diese Diskrepanz aus einer geschichtswissenschaftlichen Per­spektive zu erklären: Erstens eine Dis­kursanalyse von Parteiveröffentlichungen und Positionspapie­ren, zweitens eine Analyse der Social-Media-Posts von Schlüsselfiguren und drittens eine Analyse linker Zeitschriften und Zeitungen von 2022 bis 2025. Abschliessend griff Lottaz Marco Zanolis Ana­lyse der Haltung der SPS gegenüber der Landesverteidigung zwischen 1917 und 1937 auf, die zwischen einer antimilitaristischen, revolutio­när-klassenkämpferischen Tendenz sowie einer pro-militäri­schen, evolutionär-demokratischen Tendenz unterscheidet. Gemäss Lottaz bieten diese Überlegun­gen einen anregenden Ausgangs­punkt dafür, den Wandel sozialdemokratischer Positionen in Bezug auf die Lockerung des Kriegs­materialgesetzes seit 2022 geschichtswissenschaftlich einzuordnen.

Aus einer politikwissenschaftlichen und praxisaffinen Perspektive strich LAURENT GOETSCHEL (Ba­sel) heraus, dass die drei Beiträge gezeigt hätten, dass der Begriff «Frieden» in den Friedensbewe­gungen insbesondere während des Kalten Krieges umstritten war. «Frieden» diene als Projektions­fläche für nationale und internationale Wertvorstellungen und sei deshalb ein anregender Ausgangs­punkt für eine geschichtswissenschaftliche Analyse. Zum Schluss führte Goetschel an die drei Vor­träge anschliessende Untersuchungshorizonte aus: Mit Blick auf den von Antognini angesprochenen liberalen Internationalismus und der nach wie vor aktuellen Problematik, ob militärische Interventio­nen im Namen der Menschenrechte gerechtfertigt seien, sei es lohnend, ausführlicher zu untersu­chen, wie sich einzelne historische Strömungen zu solchen Fragen verhielten. Müller wiederum zeigte auf, dass feministische und geschlechtergeschichtliche Ansätze auch für die Friedensfor­schung fruchtbar seien, da so unsichtbare gesellschaftliche Machtverhältnisse offengelegt werden könnten. Lottaz habe seinerseits verdeutlicht, dass die Frage, wie sich die Sozialdemokratie zu Fra­gen von Sicherheit und Militär positioniere, sowohl für eine geschichtswissenschaftliche Analyse re­levant sei als auch für die kontroverse politische Frage, ob eine sozialdemokratische Partei im Na­men des liberalen Internationalismus auf militärische Intervention gänzlich verzichten solle.

 

 

Panelübersicht:

Timeo Antognini: Das pazifistische Engagement von linken Christ:innen in der Deutschschweiz (1960–1990)

Aline Müller: « Avons-nous encore un avenir, nous et nos enfants? »: L’engagement des femmes pour la paix et le désarmement nucléaire dans les années 1980

Pascal Lottaz: Die Sozialdemokratie und die Waffenfrage im Ukrainekrieg

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Manifestazione
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Data della manifestazione
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Luogo
Luzern
Lingua
Tedesco
Report type
Conference