Verantwortung: Timeo Antognini
Referierende: Timeo Antognini / Aline Müller / Pascal Lottaz
Kommentar: Laurent Goetschel
Warum braucht die Friedensbewegung mehr Sichtbarkeit in Öffentlichkeit und Forschung? Mit dieser Frage eröffnete TIMEO ANTOGNINI (Fribourg) das Panel «Die Friedensbewegung von 1960 bis heute». Er betonte zunächst, dass der Grossteil der Forschung zu Friedensbewegungen vom Ende der 1980er Jahre stamme und demnach nicht auf dem neuesten Stand sei. Die Friedensbewegung besitze allerdings angesichts der gegenwärtigen Aufrüstung in Europa und der damit verbundenen Spaltung der Friedenskräfte eine besondere Relevanz – auch für die Geschichtswissenschaft. Vor diesem Hintergrund setzte sich das Panel ausführlicher mit der Frage auseinander, wie Spannungen innerhalb der deutschschweizerischen Friedensbewegung und Sozialdemokratie unterschiedliche Auffassungen von «Frieden» offenlegen.
Im ersten Beitrag befasste sich Antognini mit christlichen Organisationen, die die Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst prägten. Anhand der Religiös-Sozialen Vereinigung und der Neuen Religiös-Sozialen Vereinigung und deren Publikationsorganen Neue Wege sowie Der Aufbau ging er exemplarisch der Frage nach, wie sich interne Konflikte in der deutschschweizerischen Friedensbewegung an der Frage der Positionierung bei internationalen Konflikten entzündeten. Dabei machte Antognini zwei Phasen aus: Von 1945 bis in die 1980er Jahre diskutierten die Organisationen den Positionsbezug gegenüber der Sowjetunion. In dieser Phase nahm die Religiös-Soziale Vereinigung eine blockfreie Position ein und lehnte Antikommunismus ab. Die Neue Religiös-Soziale Vereinigung dagegen vertrat eine pro-westliche und antikommunistische Position. In der zweiten Phase ab den späten 1980er Jahren stand hingegen die Haltung gegenüber militärischen Interventionen im Namen der Menschenrechte und des liberalen Internationalismus im Vordergrund. Als Beispiele nannte Antognini die Positionsbezüge in der Jugoslawien- und der Ukrainefrage, wobei er eine Kontinuität zur ersten Phase feststellte: Hinsichtlich der Frage, ob militärische Interventionen im Namen der Menschenrechte gerechtfertigt seien, sprachen sich einige Stimmen in blockfreier Tradition für eine friedliche Koexistenz von Nationalstaaten unterschiedlicher Systeme aus, während andere Stimmen Interventionen im Namen der Demokratieförderung einforderten. Die Spannungen zwischen antikommunistischen und blockfreien Positionen, so Antogninis zentrale These, lebten folglich auch in der zweiten Phase fort.
ALINE MÜLLER (Genf) untersuchte in ihrem Referat Verbindungen zwischen feministischen und antimilitaristischen Positionen in den frühen 1980er Jahren in der Schweiz. Anhand der öffentlichen Diskussionen um den Bericht Die Mitwirkung der Frau in der Gesamtverteidigung (1979) von Andrée Weitzel zeigte Müller Unterschiede zwischen Friedens- und Frauenbewegung auf. Nach ersten Protesten ab 1981 gegen die Integration von Frauen in die Gesamtverteidigung, die der Bericht propagierte, intensivierte sich die feministische und antimilitaristische Mobilisierung ab 1983. So zeigten sich während einer Pressekonferenz vom 21. Januar 1983 gegen den Bericht unterschiedliche Vorstellungen von «Frieden» und den Aufgaben von Frauen zur Friedensförderung. Die Diskussionen während der Pressekonferenz unterstrichen laut Müller, dass sich Frauen in den 1980er Jahren nicht nur mit nuklearer Aufrüstung, sondern auch mit dem Militär und einer zunehmenden «Militarisierung der Gesellschaft» auseinandersetzten. Dabei wählten Pazifistinnen und radikale Feministinnen unterschiedliche Strategien, wie Müller herausarbeitete: Die pazifistischen Frauen für den Frieden vertraten auf der einen Seite ein breites Verständnis von Frieden – nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als Einsatz für Demokratie und soziale sowie ökologische Gerechtigkeit. Radikale Feministinnen auf der anderen Seite grenzten sich sowohl vom Weitzel-Bericht als auch von den Frauen für den Frieden ab, indem sie deren Assoziierung von Frauen mit Frieden ablehnten und die Armee als sexistische, patriarchale und antidemokratische Institution kritisierten.
PASCAL LOTTAZ (Tokio) widmete sich im dritten Beitrag der schweizerischen Sozialdemokratie und deren Friedens- und Sicherheitspolitik. Er präsentierte vorläufige Überlegungen zur Frage, wie die Diskrepanz zwischen den ideologischen Grundsätzen einer sozialdemokratischen Friedenspolitik in der Schweiz und dem tagespolitischen Geschäft im Hinblick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu erklären sei. So vertrete das sozialdemokratische Parteiprogramm von 2010 einerseits eine starke pazifistische und anti-militaristische Haltung, da die Abschaffung der Armee befürwortet und für eine Beseitigung von Kriegs- und Gewaltursachen plädiert werde. Andererseits positioniere sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) im Krieg zwischen Russland und der Ukraine in ihrer Resolution vom August 2023 aufseiten der Ukraine. Lottaz schlug verschiedene Ansätze und Quellenkorpora vor, um diese Diskrepanz aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive zu erklären: Erstens eine Diskursanalyse von Parteiveröffentlichungen und Positionspapieren, zweitens eine Analyse der Social-Media-Posts von Schlüsselfiguren und drittens eine Analyse linker Zeitschriften und Zeitungen von 2022 bis 2025. Abschliessend griff Lottaz Marco Zanolis Analyse der Haltung der SPS gegenüber der Landesverteidigung zwischen 1917 und 1937 auf, die zwischen einer antimilitaristischen, revolutionär-klassenkämpferischen Tendenz sowie einer pro-militärischen, evolutionär-demokratischen Tendenz unterscheidet. Gemäss Lottaz bieten diese Überlegungen einen anregenden Ausgangspunkt dafür, den Wandel sozialdemokratischer Positionen in Bezug auf die Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes seit 2022 geschichtswissenschaftlich einzuordnen.
Aus einer politikwissenschaftlichen und praxisaffinen Perspektive strich LAURENT GOETSCHEL (Basel) heraus, dass die drei Beiträge gezeigt hätten, dass der Begriff «Frieden» in den Friedensbewegungen insbesondere während des Kalten Krieges umstritten war. «Frieden» diene als Projektionsfläche für nationale und internationale Wertvorstellungen und sei deshalb ein anregender Ausgangspunkt für eine geschichtswissenschaftliche Analyse. Zum Schluss führte Goetschel an die drei Vorträge anschliessende Untersuchungshorizonte aus: Mit Blick auf den von Antognini angesprochenen liberalen Internationalismus und der nach wie vor aktuellen Problematik, ob militärische Interventionen im Namen der Menschenrechte gerechtfertigt seien, sei es lohnend, ausführlicher zu untersuchen, wie sich einzelne historische Strömungen zu solchen Fragen verhielten. Müller wiederum zeigte auf, dass feministische und geschlechtergeschichtliche Ansätze auch für die Friedensforschung fruchtbar seien, da so unsichtbare gesellschaftliche Machtverhältnisse offengelegt werden könnten. Lottaz habe seinerseits verdeutlicht, dass die Frage, wie sich die Sozialdemokratie zu Fragen von Sicherheit und Militär positioniere, sowohl für eine geschichtswissenschaftliche Analyse relevant sei als auch für die kontroverse politische Frage, ob eine sozialdemokratische Partei im Namen des liberalen Internationalismus auf militärische Intervention gänzlich verzichten solle.
Panelübersicht:
Timeo Antognini: Das pazifistische Engagement von linken Christ:innen in der Deutschschweiz (1960–1990)
Aline Müller: « Avons-nous encore un avenir, nous et nos enfants? »: L’engagement des femmes pour la paix et le désarmement nucléaire dans les années 1980
Pascal Lottaz: Die Sozialdemokratie und die Waffenfrage im Ukrainekrieg