Verantwortung: Matthias Ruoss / Verena Halsmayer
Referierende: Verena Halsmayer / Timothy Schürmann
Kommentar: Monika Wulz
Im Panel «Imagination und Widerstand» ging es um Praktiken der Sichtbarmachung im 20. Jahrhundert, die sich explizit gegen hegemoniale Auffassungen des Gesellschaftlichen richteten. Die im Fokus stehenden Gegensichtbarkeiten, so MATTHIAS RUOSS (Fribourg) in seiner Einleitung, seien nicht als blosse Spiegelungen vormals unsichtbarer sozialer Realitäten zu verstehen. Sie zielten auch nicht auf Repräsentation in vorherrschenden symbolischen Ordnungen ab, sondern seien primär Interventionen im doppelten Sinn: Erstens würden sie dominante Systeme der Sinnhaftigkeit unterlaufen und zweitens neue Ordnungen der Wahrnehmung schaffen und so andere Zugänge zur sozialen Wirklichkeit ermöglichen. Gegensichtbarkeiten seien also fundamental herrschaftskritisch und transformativ. Ruoss skizzierte die längere Denktradition, in der Gegensichtbarkeiten stehen. Diese lasse sich an der Schnittstelle von historischer Epistemologie, der Forschung zu sozialen Bewegungen und politischer Theorie verorten. Gemeinsamer Bezugspunkt sei das produktive Moment subversiver Praxis. Gegensichtbarkeiten in die Historiographie einzubauen sei eine Herausforderung für die Geschichtswissenschaft, betonte Ruoss. Ihre inhärente Machtkritik und die transformative Ästhetik müssten ernstgenommen werden, statt in Fortschrittsnarrativen aufzugehen. Gegensichtbarkeiten forderten also eine kritische Geschichtsschreibung, die die Produktionsbedingungen historischer Forschung – besonders Ausschlüsse – mitreflektierten. Was abstrakt und befremdlich klinge, solle nun in den empirischen Beiträgen konkretisiert werden.
Tatsächlich vermochte der Beitrag von VERENA HALSMAYER (Wien) zum sogenannten Lucas-Plan, einem in den 1970er Jahren konzipierten alternativen Betriebsplan der Belegschaft des Britischen Rüstungskonzerns Lucas Aerospace, die Ausführungen von Ruoss konkreter fassbar zu machen. Als Ausgangspunkt führte Halsmayer ihre bisherige Auseinandersetzung mit Modellen und Messungen aus der Volkswirtschaftslehre an, die nicht nur darstellten und abbildeten, sondern auch bestimmte Kenntnisse des Realen herstellten. Im Zentrum ihres Beitrags stand mit dem Lucas-Plan ein solches alternatives ökonomisches Wissen. Die umtreibende Frage des noch laufenden Forschungsprojekts sei, inwiefern ein solcher Gegenplan dominierende Sichtbarkeiten des Ökonomischen aufbrechen könne.
Lucas Aerospace war in den 1970er Jahren der grösste europäische Hersteller von elektronischen Flugzeugsystemen, sowohl zivil als auch militärisch. Nach massiven Entlassungen in der ersten Hälfte des Jahrzehnts und vor weitere Rationalisierungen gestellt, schlugen die verbleibenden 13’000 Angestellten eine Umstrukturierung der Produktion vor. Zum Strategiepapier der Belegschaft gehörte eine Sammlung von 115 sozial nützlichen Gütern, beispielsweise Wärmepumpen, Solarkollektoren und Elektroantriebe, die in der Fabrik herzustellen seien. Der alternative Betriebsplan zielte letztlich, so Halsmayer, auf eine Neuorganisation der Arbeit, die zu einer neuen nicht kapitalistischen Produktionsweise hätte führen können. Verantwortet wurde dieser Plan vom Lucas Combine, dem horizontal organisierten Gremium, das die Beschäftigten repräsentierte. Haselmayer hob die Informationskampagne des Lucas Combines hervor, mit dem die andere Art der Produktion sichtbar gemacht wurde. Insbesondere die Kritik an kapitalistischer Wissenschaft und Technik werde denn auch stark und bis in die Gegenwart rezipiert, wobei die aktuelle Rezeption vor allem auf Ressourceneffizienz und ökologische Kriterien fokussiere. Das Anliegen des Lucas-Plans könne man auch als Suche nach neuen epistemischen Formen verstehen. Das Combine habe beispielsweise immer wieder die für den Plan konstitutive Bedeutung der kollektiven Schaffung von Wissen betont und dieses etwa mithilfe von Fragebögen für die Belegschaft umgesetzt. Auch eine alternative Buchhaltung und ein alternatives nationalökonomisches Wissen seien im Plan verschiedenartig thematisiert worden. Halsmayer resümierte, die Gegensichtbarkeit des Plans bestehe in der Imagination einer anderen Ökonomie, einem Gegenentwurf, der in den konkreten Erfahrungen der etablierten Produktion wurzle. Die Konzentration auf das Konkrete sei schliesslich auch für die heutige Rezeption zentral.
Wofür und für wen soll die Universität sein? Mit dieser Frage, die in den 1950er Jahren auch in der Schweiz diskutiert wurde, leitete TIMOTHY SCHÜRMANN (Fribourg) die Präsentation seines Dissertationsprojekts ein. Den Vorstellungen der damaligen Akteurinnen und Akteure über eine anders gestaltete Hochschule könne man mit dem Quellenbegriff der Demokratisierung nachgehen. Schürmann legte anschliessend seine These dar: Studierende machten sich als politisches Subjekt sichtbar und strebten eine Demokratisierung des Studiums an, wurden von den Entwicklungen aber enttäuscht und entwickelten dadurch teilweise Strategien hin zur Gegensichtbarkeit. Einige radikalisierten sich und bildeten Gegengemeinschaften. Die Studierenden hätten sich also intensiv mit ihrer eigenen sozialen und politischen Situation beschäftigt. Dementsprechend hätten die materiellen Grundlagen des Studiums eine wichtige Rolle eingenommen. Die Studierenden schufen etwa selbst statistisches Material und entwickelten Modelle finanzieller Unterstützungsmöglichkeiten.
Ein von Schürmann angeführtes Beispiel geht auf ein Manifest zurück, das 1957 von Lausanner Studierenden in einem Seminar erarbeitet, von der offiziellen Studierendenschaft in Lausanne verabschiedet und schliesslich 1958 in grösserer Form publiziert wurde. Dem Manifest gingen eine Analyse des kaum ausgeprägten Stipendiensystems und eine Studie voraus, die vom Verband der Schweizer Studierendenschaft (VSS) an den Lausanner Studierenden durchgeführt wurde. Letztere zeigte etwa auf, dass nur ungefähr die Hälfte der Studierenden das Studium allein durch Unterstützung der Eltern bestreiten konnte. Konkret vorgeschlagen wurde ein Unterstützungsmodell, das sich an einem in Frankreich geforderten System orientierte und vorsah, dass allen eingeschriebenen Studierenden bedingungslos und dem jeweiligen Bedürfnis entsprechend ein finanzieller Beitrag zusteht. Schürmann verdeutlichte zudem anhand von visuellen Quellen, dass die Studierenden auch die Vielfalt der Studierendenschaft sichtbar machten, in dem etwa das Bild des unbekümmerten «Herrensöhnchen» mit Gegenbildern konfrontiert wurde. Abschliessend stellte Schürmann fest, dass sich die Strategien der Sichtbarmachung während den long sixties, wie Arthur Marwick diese Zeit nannte, verändert hatten: Von Denkschriften, Medienbeiträgen und Partizipation hin zu Kundgebungen und Störaktionen.
In ihrem Kommentar fragte MONIKA WULZ (Zürich) unter anderem, ob die in den Beiträgen gezeigten Alternativen ein Vorgeschmack auf eine andere Welt seien oder ob – mit Frederic Jameson, Mark Fisher und Slavoj Žižek gesagt – es tatsächlich einfacher sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Es stelle sich auch die Frage, wie sich eine Geschichte schreiben lasse, die weder ausschliesslich eine (kritische) Erfolgsgeschichte des Kapitalismus noch eine Geschichte der Ungleichheiten ist, sondern eine Geschichte all jener, die an Alternativen zum Kapitalismus geglaubt und dementsprechend imaginiert und gehandelt haben.
Panelübersicht:
Verena Halsmayer: «Counter-planning from the Shop Floor». Alternative Ökonomien, situiertes Planungswissen und der Lucas-Plan
Timothy Schürmann: Demokratisierung der Studien. Visionen von Studierenden zwischen Bildungseuphorie und Enttäuschung
Monika Wulz: Kommentar