Verantwortung: Monika Dommann / Marietta Meier
Moderation: Lucas Federer / Magda Kaspar
Teilnehmende: Lena Haase / Philipp Hofstetter / Matthias Katsch / Uschi Waser
Das Podium beschäftigte sich mit dem Mehrwert, den Herausforderungen und ethischen Fragen historisch-wissenschaftlicher Forschung in Zusammenarbeit mit betroffenen Menschen. Betroffene sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind für bestimmte Themenfelder und Forschungsinteressen aus zweierlei Gründen unabdingbar: Erstens erfolgt historische Forschung meist täter- (und nicht opfer-)zentriert, die Perspektiven von Betroffenen werden höchstens am Rande betrachtet. Methodiken wie Oral History erlauben es aber, auch diese Sichtweisen quellenkritisch einzubeziehen. Zweitens können Betroffene helfen, Bestände in Archiven zu lokalisieren, etwa durch Hinweise auf Jahre, auf Täterinnen und Täter oder auf Institutionen. Darüber hinaus forschen geschichtswissenschaftliche Projekte vermehrt nicht nur über Betroffene, sondern in vielfältiger Weise auch mit ihnen, worauf in der Diskussion ebenfalls eingegangen wurde.
Thematisch war das Podium divers zusammengesetzt, vom Thema der (sexualisierten) Gewalt in der katholischen Kirche über die staatlich legitimierten Zwangsmassnahmen gegen Jenische bis hin zu Homosexuellen in der Schweizer Armee. Dies eröffnete nicht nur gemeinsame wie differierende Erfahrungen der Betroffenen, sondern auch Herausforderungen, die bisher unbeachtete Perspektiven ermöglichen. Es stellte sich zudem die Frage, ob verantwortungsbewusste historische Forschung ohne Einbezug der Erfahrungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen überhaupt möglich ist. In diesem Sinne sprach das Podium vier Hauptthemen an, die in unterschiedlichem Mass für die Teilnehmenden relevant waren.
Am Podium nahmen zwei Forschende und zwei Betroffene mit unterschiedlichen Forschungsgebieten beziehungsweise Hintergründen teil: USCHI WASER (Stiftung Naschet Jenische) war als Selbstbetroffene der Aktion «Kinder der Landstrasse» Teil des Runden Tisches für die Aufarbeitung der 1926 bis 1972 erfolgten Fremdplatzierungen von jenischen Kindern in der Schweiz. Sie engagiert sich seit vielen Jahren für Betroffene und will mit der Stiftung Naschet Jenische für das Thema sensibilisieren. LENA HAASE (Universität Trier) stützt sich in ihrem Forschungsprojekt an der Universität Trier zu Missbrauch in der katholischen Kirche massgeblich auf Interviews mit Betroffenen und Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Als Teil des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) untersucht PHILIPP HOFSTETTER (Universität Bern) die Diskriminierung homosexueller Menschen in der Schweizer Armee. Neben Archivmaterial stützt sich der Forschende auf Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. MATTHIAS KATSCH (Verein Eckiger Tisch) war ein Missbrauchsopfer der katholischen Kirche und wurde nach Bekanntwerdung des Skandals in Deutschland Mitglied des Vereins. Seither engagiert er sich für Missbrauchsprävention. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von MAGDA KASPAR (Universität Zürich) und LUCAS FEDERER (Universität Zürich), die beide durch ihr gemeinsames Forschungsprojekt zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche im Raum Zürich mit der Thematik vertraut sind, da über 150 Personen im Rahmen des Projekts Erfahrungen sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext mit den Projektleitenden geteilt haben.
Welche Rolle spielen Betroffene in der historischen Forschung?
Für Waser war es ein Anliegen, am eigens einberufenen Runden Tisch teilzunehmen – nicht zuletzt aufgrund ihres Wunsches, die «offene Rechnung» mit der Kirche, Gerichten und weiteren staatlichen Behörden zu begleichen. Sie selbst fühlte sich von den weiteren Mitwirkenden des Runden Tisches wahrgenommen, dennoch sei es in solchen Diskursen aufgrund der Emotionalität für Betroffene immer schwierig, kooperativ und konstruktiv zu bleiben. Umso mehr, da Nicht-Betroffene nicht wissen können, was diese Betroffenheit mit einer Person mache. Lange kämpfte Waser um Einsicht in ihre Akte, doch was drinstand, habe sie zutiefst getroffen und lasse sie ihr ganzes Leben nicht mehr los. Dennoch seien diese Akten zentral, da durch sie die erfahrene Ungerechtigkeit belegt werden könne. Damit spricht sie sich klar für den Einbezug von Betroffenen in der historischen Forschung aus.
Katsch stimmt mit Waser überein, was das primäre Interesse einer jeden betroffenen Person sei: zu erfahren, was passiert sei, wer in welchem Zusammenhang beteiligt gewesen sei, warum es geschehen sei, und warum es gerade einem selbst geschehen sei. Durch diese sehr persönliche Interessenslage einer Person gehe es nicht zuletzt um die eigene Existenz. Damit befinden sich Betroffene in einem Spannungsfeld mit der Forschung, denn für letztere ist eine persönliche Auseinandersetzung oder Aufarbeitung des Themas nicht notwendig. Dennoch betont Katsch die Rolle der Geschichtswissenschaft als Disziplin: Die strafrechtliche Verjährung der Geschichten von Betroffenen erfordere eine historische Auseinandersetzung, während der früher meist angewendete, rein juristische Blick viele Fragen unbeantwortet lasse. Bei der historischen Herangehensweise sei nicht nur von Tat, Täterinnen und Täter sowie Opfern die Rede, vielmehr werde auch die Einbettung einer Tat untersucht. Ohne ein bestimmtes Umfeld wären Missbräuche in seinen Augen nicht denkbar – und ebensolche Dynamiken mit rein juristischen Massstäben nicht messbar.
Wie können Historikerinnen und Historiker verantwortungsbewusst mit der Forschung über Betroffene umgehen?
Betroffenenforschung ist zwangsläufig mit dem Leben und den Erinnerungen von Betroffenen konfrontiert, die institutionellen Quellen oftmals diametral gegenüberstehen. Neben dieser Diskrepanz interagieren Forschende als Menschen mit Betroffenen, die gleichzeitig ihr Forschungssubjekt bilden. In diesem Spannungsfeld müssen Historikerinnen und Historiker mit den Wünschen und Erwartungen der Betroffenen umgehen, deren Lebensgeschichten sie untersuchen. Dazu empfiehlt Haase, bei Vorgesprächen vorhandene Erwartungen abzuklären und etwa zu ergründen, weshalb sich betroffene Personen beim Projekt melden. Andererseits sollen Forschende ihre Forschungsziele erläutern und darlegen, was mit den Informationen im Rahmen der Studie geschehen soll; denn Historikerinnen und Historiker seien für eine historische Aufarbeitung zuständig, nicht jedoch für Rechtsfragen. Dies führe im Umkehrschluss dazu, dass einige Personen enttäuscht zurückbleiben würden, da subjektive Schilderungen nicht immer mit der «Gesamtschau» und/oder der Aktenlage übereinstimmen.
Auch Hofstetter äussert sich zur Frage, ob Forschende möglichst unparteiisch und objektiv bleiben oder auch Partei ergreifen sollen. Gemäss eigener Aussage gehe er offen mit seiner Homosexualität um – gleichzeitig arbeitet er für eine universitäre Einrichtung und ist komplett unabhängig von der Schweizer Armee. Für die von ihm untersuchten Betroffenen, homosexuelle Armeeangehörige, schaffe er damit Empathie, für ihn als Historiker aber auch ausreichend Distanz. Hofstetter sieht es durchaus als Vorteil, für ein solches Thema sensibilisiert zu sein, betont aber schliesslich seine Perspektive als Forscher.
«Was bringt denn so eine Studie?»
Die meisten Forschungsprojekte gehen mit der Publikation der Ergebnisse zu Ende. Dadurch drohen unter Umständen Gefässe oder sogar Daten zu verschwinden. Zu diesem Punkt äussert sich Haase, die sich im Rahmen ihres Projektes bereits mit der Frage der Datenablage beschäftigte. Selbst bei guter Verwahrung der teils hochsensiblen Materialien stelle sich die Frage, wie diese umfassend weitergenutzt werden können: Um eine vernetzte und nachhaltige Forschung anzuregen, wären Anschlussprojekte nötig – und vor allem auch die Verarbeitung der Studienergebnisse im öffentlichen Diskurs.
Derselben Meinung ist auch Katsch: «Nach der Forschung ist vor der Forschung.» Für Betroffene sei das Ende eines Forschungsprojekts jedoch persönlich oftmals eine grosse Enttäuschung, da sie Einblick in ihr Innerstes gegeben hätten, ohne die Ereignisse zu verarbeiten, während die Forschenden «mit der eigenen Lebensgeschichte Karriere» machen würden, so ein wiedergegebener Eindruck. Aus diesem Grund solle versucht werden, Betroffene bei (Nach-)Gesprächen einzubeziehen, sie zu bestärken und Selbstwirksamkeit erfahren zu lassen. Immerhin seien solche Forschungsprojekte auf Betroffene angewiesen, die willens seien, den Aufarbeitungsprozess und gar einen Wandel in der Gesellschaft aktiv zu gestalten.
All dies unterstreicht Waser und fragt zynisch: «Wer liest denn so eine Studie?» Wer an einem Projekt teilnimmt, verbinde damit die Hoffnung, dass es etwas bewirke; schliesslich würden sich Betroffene engagieren, weil sie etwas erreichen möchten. Doch leider, so Waser kritisch, handele es sich oft um teure Studien mit wenig Nachwirkung. Als etwa ein Buch aus einem Forschungsprojekt entstand, wäre sie gerne «auf Lesereise» gegangen, doch das sei, gemäss den Autorinnen und Autoren, «nicht der Zweck» gewesen. Besonders eindrücklich hallen Waser die Worte von Jenischen nach: «Es bringt ja eh nüt.» Im Gegensatz dazu spricht sie sich für die Weiterverbreitung solcher Studien und deren Resultate aus.
Wer wird gehört und wer scheint stumm?
Schliesslich stellt sich die Frage, wer gehört wird – und wer nicht. Katsch als Selbstbetroffener betont: «Wir sprechen nicht für die Betroffenen, sondern wir sprechen für Betroffene.» Es sei wichtig für ihn, nicht alles ins eigene Tun und in die eigenen Worte mit hineinzunehmen, da es etwa verschiedene Arten von Gewalterfahrungen gebe. Zudem trage die Forschung eine grosse gesellschaftliche Verantwortung, weshalb deren Ergebnisse in grössere Zusammenhänge gebracht werden müssen. Ein Leitmotiv bei deutschen Anlaufstellen zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche war, dass sich Betroffene «wegen schlechten Gefühlen» meldeten und eine Wiederholung von vergleichbaren Fällen verhindern wollten. Einer solchen Aufgabe solle sich auch die Forschung annehmen.
Haase ergänzt anhand der Erfahrungen aus ihrer eigenen Studie, dass sich von ca. 800 Betroffenen im betrachteten Bistum lediglich 30 Personen auf den Studienaufruf gemeldet hätten. Sie unterstreicht, dass viele nicht mehr sprechen können, etwa weil sie nicht mehr leben. Weiter würden sich eher Personen melden, die sich bereits mit der Frage der eigenen Betroffenheit auseinandergesetzt hätten, sei es durch eine Einbindung im privaten Umfeld oder organisierten Institutionen. Nur sehr wenige würden mit den Forschenden zum ersten Mal über ihre Erfahrungen sprechen. Tatsächlich hätten sich viele zunächst «nur» als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gemeldet, um über die Betroffenheit anderer zu sprechen, obwohl sie selbst betroffen waren. Bei ihnen sei es jedoch, gemäss eigener Aussage, «nicht so schlimm» gewesen. Dies zeigt, dass viele ihre eigene Betroffenheit «unterschätzen» und tatsächlich einiges zur entsprechenden Forschung beitragen könnten. Gleichzeitig deutet es darauf hin, dass bei bestimmten Themen der Betroffenheitsforschung weitere Sensibilisierungsmassnahmen notwendig sind.
Abschliessend hebt Hofstetter hervor, dass Forschende gemäss eigener Parameter arbeiten und gezielt nach Betroffenen suchen würden, etwa durch Medienaufrufe. Die Teilnahme der Betroffenen müsse freiwillig erfolgen, da wissenschaftliche Forschungsprojekte keine psychologische Hilfeleistung bieten können. Zudem müsse die riesige Dunkelziffer von Betroffenen in einem jeden Forschungsthema konstatiert werden. Dennoch sei es bereits ein grosser Schritt, dass in der Schweiz erstmals ein Projekt durchgeführt werde, das sich mit einer sexuellen Minderheit auseinandersetze.
Federer resümiert, dass zu Forschung mit Betroffenen nach wie vor Bedarf bestehe – nach Austausch sowohl über Themenfelder als auch über Landesgrenzen hinweg. Wir dürfen also hoffen, dass die Forschung weiter vorangetrieben wird und dass möglichst viel aus gemachten Erfahrungen und dem damit verbundenen Leid nach aussen und innen getragen werden kann.