Die (Un-)Sichtbarkeiten geschichtswissenschaftlicher Fachzeitschriften: Machtmechanismen, Publikationsmodelle und Visualisierungsstrategien

Autore del rapporto
Maria
Schmidlin
Museum Haus zum Dolder
Citation: Schmidlin Maria: « Die (Un-)Sichtbarkeiten geschichtswissenschaftlicher Fachzeitschriften: Machtmechanismen, Publikationsmodelle und Visualisierungsstrategien », infoclio.ch Tagungsberichte, 18.09.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0396>, consulté le 18.09.2025

Verantwortung: Tina Asmussen / Jan-Holger Kirsch

Podiumsteilnehmende: Tina Asmussen / Jan-Holger Kirsch / Benjamin Seyd / Marco Schnyder

Moderation: Eliane Kurmann


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«Wissenschaftliche Fachzeitschriften sind unerlässlich für die Forschung und für akademische Karrieren.» Mit dieser Aussage begann BENJAMIN SEYD (Erfurt) sein Inputreferat, das die Basis für die anschliessende Podiumsdiskussion legte. Erst durch Fachzeitschriften würden die Leistungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ein breites Fachpublikum sichtbar. In starkem Gegensatz dazu stünde die Unsichtbarkeit der Prozesse, die zur Publikation eines Artikels führen. «Das Innenleben von Zeitschriftenredaktionen ist eine Blackbox», fasste Benjamin Seyd ihre Stellung im Wissenschaftsbetrieb zusammen. Diese «Blackbox» wollten sein Referat und das Podium ausleuchten. Zudem gingen die vier Podiumsteilnehmenden – sie alle sind oder waren Teil einer Zeitschriftenredaktion – auf die Herausforderungen ein, mit denen wissenschaftliche Fachzeitschriften aktuell konfrontiert sind.


Zur Rolle und Lage wissenschaftlicher Fachzeitschriften

Wissenschaftliche Fachzeitschriften erfüllen laut Benjamin Seyd drei Funktionen innerhalb der Forschung. Die erste ist die Selektionsfunktion: Die knappste Ressource im Wissenschaftsbetrieb sei die Lesezeit. Gleichzeitig werde eine grosse Menge wissenschaftlicher Texte produziert. Die Redaktionen der Fachzeitschriften übernähmen die Aufgabe, jene Texte auszuwählen, die lesenswert sind. Als zweiten Punkt nannte Benjamin Seyd die Konstruktionsfunktion. Damit meinte er Mechanismen, die zur Sicherstellung einer hohen Qualität der publizierten Artikel und damit der Forschung im Allgemeinen beitragen. Teil dieser Qualitätssicherung seien die Peer-Reviews und die darauffolgende Überarbeitung der Manuskripte durch die Autorin oder den Autor. Auch Textarbeit durch die Redaktionen spiele eine Rolle. Die dritte Aufgabe der Fachzeitschriften ist laut Benjamin Seyd die Diskursfunktion. Zeitschriften würden durch die Auswahl von Texten und das Setzen von Schwerpunkten Debattenbeiträge innerhalb der Wissenschaft leisten, Themen würden in den Fokus gerückt und damit Diskussionen oder gar Forschungsprojekte angestossen.

Trotz dieser dreifachen Relevanz für die Forschung sei die Arbeit, die Redakteurinnen und Redakteure von Fachzeitschriften leisten, unter den gegenwärtigen Bedingungen insgesamt unterfinanziert, unterreguliert und in ihrer Bedeutung unterschätzt, bilanzierte Benjamin Seyd am Ende seines Referats.1 Bei der Redaktionsarbeit komme es dadurch zu Zielkonflikten: Sie bewege sich im Spannungsfeld zwischen einem hohen Qualitätsanspruch, Quantitätszielen und der Notwenigkeit akzeptabler Arbeitsbedingungen bei einem hohen Anteil an ehrenamtlicher Arbeit. Diese Konflikte würden tendenziell verschärft durch die jüngsten Entwicklungen im Bereich des wissenschaftlichen Publizierens. Damit sprach Benjamin Seyd die Konzentration im Verlagswesen an, auf das viele wissenschaftliche Fachzeitschriften nach wie vor angewiesen sind. Die verbleibenden Grossverlage verfügen über eine Machtposition, wenn es um das Aushandeln von Publikationsmodellen für wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften geht. Diese Monopolstellung würden sie teilweise zur Gewinnmaximierung und damit auch zu Lasten der Zeitschriftenredaktionen ausspielen.


Publikationsmodelle wissenschaftlicher Fachzeitschriften

Die Wissenschaftsgemeinde strebt Publikationsmodelle an, die Forschung möglichst frei und damit kostenlos zugänglich macht. Wer mit öffentlichen Geldern forscht, ist verpflichtet, nach Open-Access-Standards zu publizieren.2 Die Ergebnisse sollen anderen Forschenden und der Öffentlichkeit möglichst schnell und hindernisfrei zur Verfügung stehen. Verlage hingegen arbeiten in den meisten Fällen gewinnorientiert. Die Wissenschaftsgemeinde und die Verlage suchten in den letzten Jahren Wege, um ihre unterschiedlichen Interessen auszugleichen. Dabei entstanden verschiedene Publikationsmodelle, die auf dem Podium thematisiert wurden.

Das Berliner Journal für Soziologie, dessen Redaktion Benjamin Seyd leitet, ist seit 2020 ein frei zugängliches Open-Access-Journal. Statt die Zeitschrift im Abonnementmodell zu verkaufen, bezahlen die Autorinnen und Autoren dem Springer Nature Verlag, in dem die Fachzeitschrift erscheint, eine sogenannte Article Processing Charge (APC) von rund 3000 Euro pro Artikel. Diese Kosten übernimmt im Rahmen des DEAL-Vertrags3 die Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, in der Schweiz sind es die Institutionen, die hinter den Autorinnen und Autoren stehen, oder der Schweizerische Nationalfonds (SNF). Der Springer Nature Verlag verdiene mit dem Modell rund 100'000 Franken im Jahr, so Benjamin Seyd. Bei der Redaktion, die den Grossteil der Arbeit für die Publikationen übernimmt, komme davon nur ein sehr kleiner Teil an. Die Redaktion erhalte einen fix vereinbarten Betrag, unabhängig davon, wie viel Geld der Verlag mit APCs einnimmt. Wenn der Verlag zur Gewinnsteigerung auf mehr Veröffentlichungen dränge, müsse die Redaktion mit denselben Mitteln mehr Artikel bearbeiten, was zu Qualitätseinbussen führe. Trotz dieser Problematik sei die Zeitschrift vom Verlag abhängig, da er die Rechte am Titel besitze, so Benjamin Seyd. Die Abhängigkeit der Redaktionen und damit des Wissenschaftsbetriebs von Grossverlagen sei ein strukturelles Problem.

Die Fachzeitschrift traverse – Zeitschrift für Geschichte, die im Zürcher Chronos Verlag erscheint, kennt ein anderes Modell. Bei ihr ist die Publikation eines Artikels kostenlos, der freie Zugang aber stark eingeschränkt. Die Artikel werden erst nach einer 12-monatigen Sperrfrist frei im Internet publiziert. Alles andere sei unter den gegebenen Bedingungen zu riskant, erklärte TINA ASMUSSEN (Bochum) auf dem Podium, da die traverse auf Abo-Verkäufe angewiesen sei. Die Zeitschrift müsse sich zu 50 Prozent darüber finanzieren, um Subventionsgelder von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) zu erhalten. Ohne diese Gelder liesse sich die Zeitschrift nicht realisieren. Eine unmittelbare Open-Access-Publikation, mit der Abonnemente wegfallen, sei bei diesem Subventionsmodell nicht mitgedacht.

Die Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, auf dem Podium vertreten durch MARCO SCHNYDER (Freiburg i. Üe.), und die Zeitschrift Zeithistorische Forschungen, deren Redaktion JAN-HOLGER KIRSCH (Potsdam) leitet, gehen hingegen den sogenannt diamantenen Weg. Bei diesem Modell zahlen weder die Autorin oder der Autor für die Veröffentlichung des Texts noch die Leserinnen und Leser für den Zugang. Die Artikel erscheinen von Anfang an open access im Internet. Mit Blick auf dieses Modell schloss Jan-Holger Kirsch den Diskussionspunkt mit den Worten «wo wir publizieren, bleibt unsere Entscheidung» – und forderte Forscherinnen und Forscher damit auf, sich beim Publizieren eines Artikels die Frage zu stellen, welches Modell sie unterstützen wollen.


Artikelpublikation – Aufgaben der Redaktion und Peer-Review

Was Forscherinnen und Forscher beim Einreichen eines Artikels ebenfalls stark beschäftigen dürfte, ist die Frage, wie über die Publikation ihres Textes entschieden wird. Auch dieser Prozess war schwerpunktmässig Thema der Podiumsdiskussion. Der Entscheid darüber, ob ein Manuskript angenommen oder abgelehnt wird, liege bei der Redaktion, stellte Benjamin Seyd fest. Ein anderer Prozess sei gar nicht möglich. Nur die Redaktion wisse über das aktuelle Angebot an Artikeln und die geplanten Themenschwerpunkte Bescheid, was für die Auswahl zentral sei. Zudem würden sich die Standards von Gutachterinnen und Gutachtern beim Peer-Review unterscheiden, während eine Redaktion einen konstanten Massstab anlegen könne. Ihm war dabei wichtig zu betonen, dass Wissenschaft als ein kollektives Unterfangen zu verstehen ist. Die eingereichten Texte kämen erst zur Publikationsreife durch die Anpassungen aufgrund der Peer-Reviews und durch redaktionelle Eingriffe, beispielsweise hinsichtlich der Sprache.

Die traverse habe in den letzten Jahren ein eigenes System für die Überarbeitung eingereichter Manuskripte entwickelt, berichtete Tina Asmussen im Anschluss. Alle Artikel zu einem Themenbereich würden von einer Schwerpunktredaktion betreut. Diese entspreche jenem Teil des rund 20-köpfigen Redaktionsteams, der für das jeweilige Themenheft zuständig ist. Zusätzlich gebe es für jeden Artikel ein doppelblindes Peer-Review und eine Begutachtung durch ein nicht direkt am Heft beteiligtes Redaktionsmitglied. Interessanterweise gingen die Meinungen zu einem Text dabei teilweise weit auseinander. Der Entscheid über den Abdruck eines Artikels obliege am Ende im Ermessen der Gesamtredaktion.

Jan-Holger Kirsch beschrieb die Redakteurinnen und Redakteure als jene, die zur Förderung der wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren auf der Hinterbühne stehen. Bei den Zeithistorischen Forschungen würde jeder längere Text zwei externe Gutachten durchlaufen, bevor er allenfalls zur Veröffentlichung angenommen wird. Anschliessend erfolge eine Überarbeitungsphase, geleitet durch die Redaktion. Kürzere Texte würden hauptsachlich durch die Redaktion geprüft und in Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren weiterentwickelt.

Obwohl die Arbeit der Redaktion im Optimalfall in der Schlussversion nicht ersichtlich sei, wie es Benjamin Seyd sagte, ist sie aufwändig und zeitintensiv. Davon berichtete auch Marco Schnyder, der bis vor kurzem Teil der bisher zweiköpfigen Redaktion der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte war. Die Zeitschrift hat seit Mitte 2025 eine neue Redaktion, die nun aus fünf Personen besteht. Die redaktionelle Arbeit sei auf mehrere Schultern verteilt worden, um die Qualität weiterhin sicherstellen zu können, erklärte Marco Schnyder. Mit einer grösseren Redaktion könne die von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG) getragene Zeitschrift zudem der Mehrsprachigkeit der Schweizer Forschungslandschaft besser gerecht werden.

Dieses Ziel verfolgt auch die Redaktion der traverse, die in ihren Heften Artikel über Epochen- und Sprachgrenzen hinweg versammelt, wie Tina Asmussen sagte. Sie verstehe das Zusammenstellen der Zeitschrift als Beziehungsarbeit innerhalb der Redaktion. Es sei das soziale Moment des gemeinsamen Auswählens und Entscheidens, das ihre Zeitschrift ausmache. Ihre Antwort lässt erahnen, was auch Benjamin Seyd bei einer Umfrage in diversen Zeitschriftenredaktionen feststellte: Die Redakteurinnen und Redakteure von Fachzeitschriften arbeiten trotz bestehender Herausforderungen mit einer hohen intrinsischen Motivation. Gefragt, was ihn bei der Zeitschrift halte, brachte Jan-Holger Kirsch diese Motivation am Ende des Podiums folgendermassen auf den Punkt: «Ich gestalte gerne Zeitschriften und mir gefällt die Arbeit mit den Autorinnen und Autoren, um gute Forschungsinhalte zu verbreiten.»


Anmerkungen
1 Um die Arbeitsbedingungen von Zeitschriftenredaktionen besser zu verstehen, führte Benjamin Seyd gemeinsam mit einem Team der Universität Jena 2023 eine explorative Studie durch. Mittels Fragebogen gaben 66 sozial- und geisteswissenschaftliche Zeitschriftenredaktionen Auskunft über ihre Redaktionsarbeit zur Publikation von Artikeln. Die Fragen bezogen sich unter anderem auf die Arbeitsteilung zwischen Herausgeberschaft, Redaktion und Verlag, die Bezahlung oder die eingesetzten Arbeitsstunden.
2 Verein open-acces.network e.V: Was bedeutet Open Access?, open access network, 10.6.2025, <https://open-access.network/informieren/open-access-grundlagen/was-bedeutet-open-access>, Stand: 23.07.2025.
3 Weitere Informationen auf der Webseite DEAL-Konsortiums, <https://deal-konsortium.de/>.

 

Dieser Podiumsbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Manifestazione
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Data della manifestazione
-
Luogo
Luzern
Lingua
Tedesco
Report type
Conference