«Nur wer sichtbar ist, findet auch statt» – Exklusionsgeschichte im Sport vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Autore del rapporto
Robin
Graf
Universität Luzern
Citation: Graf Robin: « «Nur wer sichtbar ist, findet auch statt» – Exklusionsgeschichte im Sport vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart », infoclio.ch Tagungsberichte, 25.09.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0380>, consulté le 05.10.2025

Verantwortung: Nils Widmer / Marianne Meier

Referierende: Marianne Meier / Nils Widmer / Lisa Jenkel

Kommentar: Michael Jucker

 

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Mit dem Zitat «Nur wer sichtbar ist, findet auch statt» (Tijen Onaran) eröffnete MICHAEL JUCKER (Luzern) das Panel zur Exklusionsgeschichte im Sport im 20. Jahrhundert. Sport habe sich zu einer medialen Maschine entwickelt, die in der Schweiz mittlerweile mehr Kapital generiere als beispiels­weise die Landwirtschaft. Die Sichtbarkeit des Sports finde im Dreieck Medien – Macht – Unterhal­tung statt und sei zentral für dessen Verbreitung. Die durch die mediale Aufmerksamkeit verbreite­ten Bilder seien vor allem weiss, christlich und männlich geprägt. Das Panel wollte näher erläutern, welche Bilder im Sport verbreitet werden und welche Diskurse es dazu gibt.

In ihrem Referat stellte MARIANNE MEIER (Bern) Erkenntnisse aus ihrem Buch Vorbild und Vorurteil zur weiblichen Homosexualität im Schweizer Spitzensport vor. Sie zeigte damit die Mechanismen im Sport im Machtdreieck Sport – Medien – Wirtschaft auf. Mithilfe der Oral History wurden die Erfah­rungen von 28 Zeitzeuginnen erarbeitet und damit ein Beitrag zur Erfahrungsgeschichte des Schwei­zer Sports geleistet. Dies sei von grosser Relevanz, so Meier, da es besonders an homosexuellen Vor­bildern im Sport mangle und dies zu einer verstärkten Unsichtbarkeit führe. Gründe für diese Un­sichtbarkeit erklärte sie anhand des Machtdreiecks. Sport sei von einem heteronormativen binären System geprägt, das die entsprechenden Strukturen verstärke. Homosexualität erschüttere dieses System und die gut behüteten und reproduzierten Geschlechternormen der Sportwelt. Dies führe zu einer verminderten Sichtbarkeit homosexueller Sportlerinnen, was wiederum die wirtschaftliche Di­mension wie Sponsoring oder die Vermarktung beeinträchtige. Diese Erkenntnisse belegte Meier mit den Aussagen der interviewten Zeitzeuginnen sowie den Erklärungen der Sportlerinnen, die für das Interview abgesagt haben. Die Sichtbarmachung und damit die Sichtbarkeit von homosexuellen Vor­bildern ist nach Meier das zentrale Ziel ihrer Studie. Insbesondere durch den Sport könnten Vorbilder geschaffen werden, da dieser eine grosse Projektionsfläche biete und damit einen stärkeren Einfluss habe. Ein entsprechender Wandel sei bereits zu beobachten: Während in den 1990er Jahren Frau­enfussballteams noch mit der Begründung von «zu vielen Lesben» aufgelöst wurden, ist Homosexu­alität heute im Frauenfussball akzeptierter als im Männerfussball.

NILS WIDMER (Luzern) erklärte anhand der Biografie Esla Roths, von 1934-1976 Funktionärin des Schweizer Skiverbands (SSV), wie diese unseren Blick auf die Sport- und Gesellschaftsgeschichte der Schweiz veränderte. Auch wenn sie heute vergessen sei, widerspräche ihr Beispiel der verbrei­teten These, dass Frauen erst ab den 1970er Jahren und nur im sogenannten Frauensport eine prä­gende Rolle übernahmen. Widmer begann die Chronologie von Roths Karriere mit ihrer Situation als Tochter einer gut situierten Berner Familie. Durch familiäre Beziehungen lernte sie bereits früh in Mürren BE Skifahren, was ihr den Weg für die spätere Karriere beim SSV ebnete. Gemäss Widmer habe sie nach Pierre Bourdieus Theorie somit von Haus aus die nötigen Ressourcen gehabt, um sich im Skisport zu behaupten. Das Besondere an Elsa Roths Karriere sei, dass sie sich als Frau im männ­lich dominierten Skisportnetzwerk behaupten konnte. Dies in Relation dazu, dass im Vergleich zu anderen Sportarten der Skisport tendenziell offener gegenüber Frauen war und bereits 1929 der Schweizerische Damen-Skiclub gegründet wurde. Elsa Roth war an dieser Gründung beteiligt und wurde 1939 vollamtliche Zentralsekretärin des SSV und hatte damit de facto die oberste Kontrolle. Ihre Sichtbarkeit in der Sportwelt vergrösserte sich durch publizistische und aktivistische Tätigkei­ten zur Förderung des Frauenskisports international. Abschliessend erläuterte Widmer das Ende von Roths Karriere und die damit verbundenen Grenzen der Sichtbarkeit. Der administrativen Tätigkeit kurz vor ihrem Karriere­ende geschuldet, habe sie danach nur wenig Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden, zumal der mediale Aufschwung erst nach ihrer aktiven Zeit kam. Dies im Gegensatz zu männlichen Vorstands­mitgliedern wie beispielsweise Altbundesrat Adolf Ogi, die länger bekannt blie­ben. Widmer schloss aus diesen Erkenntnissen, dass weibliche Sichtbarkeit in der Arbeits- und Or­ganisationswelt des Sports unter bestimmten Voraussetzungen bereits vor den 1970er Jahren mög­lich war. Es bedurfte jedoch Ressourcen wie Klasse, Bildung und Netzwerke. Des Weiteren wies er darauf hin, dass das Vergessen der Person Elsa Roth in der Sportgeschichte ein strukturelles Problem des kulturellen Ge­dächtnisses anhand der Trennlinie Geschlecht zeige.

Im dritten Referat ergänzte LISA JENKEL (Basel) die Diskussion um die Sichtbarkeit im Sport mit der Perspektive auf den Rassismus. Anhand des Diskurses in der britischen Presse zeigte sie die antise­mitisch geprägten Vorstellungen über jüdische Sportlerinnen und Sportler zu Beginn des 20. Jahr­hunderts auf. Sie ging auf verschiedene Narrative ein, die in Zeitungsartikeln und humoristischen Kurzgeschichten antisemitische Stereotype in Bezug auf den Sport reproduzierten. Als Beispiel iden­tifizierte Jenkel das Vorurteil, dass sich Juden nur passiv am Sport beteiligten und in erster Linie am Wetten und dem Geldgeschäft interessiert seien. So nähmen sie beispielsweise an Pferderennen nur als Pferdebesitzer und Wettbuchhalter teil. Ebenso würden Berichterstattungen von Sportveranstal­tungen und Reaktionen auf die Gründung von jüdischen Sportvereinen die Vorstellung einer natürli­chen, physiognomisch bedingten Unsportlichkeit von Juden verbreiten. Beides entspreche zu jener Zeit vorherrschenden, antisemitischen Stereotypen. Sie führte weiter aus, dass Sportlichkeit als eine inhärent englische Eigenschaft angesehen wurde und die Vorstellung verbreitet war, dass durch Sportförderung Juden «anglisiert» werden könnten.  Jüdische Sportvereine sowie Sportlerinnen und Sportler wurden dennoch als Kuriosität angesehen. Dies zeigte sich auch durch das Infragestellen der Berechtigung von Jüdinnen und Juden in englischen Nationalkadern, obwohl diese zum Beispiel im Boxen an internationalen Wettkämpfen sehr erfolgreich waren. Die Folge dieser diskriminieren­den Haltung war die Gründung zahlreicher jüdischer Sportvereine, was wiederum als Bestätigung der Vorurteile der sportlichen Unterlegenheit interpretiert wurde. Die Verbreitung und Festigung des Stereotyps des «unsportlichen Juden» führte zu einer Unsichtbarkeit von Jüdinnen und Juden im englischen Sport, was durch die Gründung von Parallelinstitutionen verstärkt wurde. Erst durch die Präsenz immer weiterer erfolgreicher jüdischer Sportlerinnen und Sportler Mitte der 1920er Jahren wandelte sich das Bild. Die jüdische Sportlichkeit wurde jedoch nach wie vor als etwas Besonderes hervorgehoben.

Abschliessend fasste Jucker die wichtigsten Erkenntnisse der drei Vorträge in seinem Kommentar zusammen. Hervorzuheben sei, dass Sportgeschichte nicht nur die Geschichte von Erfolg und Nie­derlagen ist, sondern eine Geschichte zwischen Geschlechtern, sozialen Gruppen, Religionen und vielem weiteren, das uns bis in die Gegenwart beschäftige. Zudem sei Sport immer auch Medialisie­rung und Spektakel. Dies wurde durch das von Meier hervorgehobene Machtdreieck theoretisch auf­gezeigt und durch Widmer und Jenkel exemplarisch belegt. Die Beiträge leisten somit einen wichti­gen Beitrag zur Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die Frage nach der (Un-)Sichtbar­keit bleibe zentral, so Jucker. Er wies jedoch darauf hin, dass in den Beiträgen die Sichtbarkeit positiv gewertet wurde und stellte die Frage, ob sie das wirklich immer war.  Es gäbe auch die dunkle Seite der Medaille «Sichtbarkeit»: Angreifbarkeit aufgrund von Sexualität, Geschlecht oder Religion.

 

 

Panelübersicht

Marianne Meier: Homosexualität im Sport: Das letzte Tabu?

Nils Widmer: «[...] in Tat und Wahrheit habe Elsa Roth den SSV dirigiert» – Die sichtbar unsichtbare Skifunktionärin Elsa Roth (1906–2000)

Lisa Jenkel: Unsportlich und unsichtbar? Das stereotyp der «unsportlichen Juden» in der englischen Presse 

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Manifestazione
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Data della manifestazione
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Luogo
Luzern
Lingua
Tedesco
Report type
Conference