Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Brigitte
Studer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2010/2011
Abstract
Der sanktgallische Schutzaufsichtsverein für entlassene Sträflinge war ein privater Verein, welcher im 19. Jahrhundert entlassene Sträflinge im Kanton St. Gallen bei der Resozialisierung unterstützte. In der Masterarbeit wird der Verein aus drei verschiedenen Perspektiven historisch verortet, so im Hinblick auf seine rechtliche Situation, auf seine Mitgliederstruktur sowie auf seine Zielsetzung und Motivation. Der Fokus der Arbeit liegt dabei auf der Frage, inwiefern die Tätigkeit des sanktgallischen Schutzaufsichtsvereins als Disziplinierung und damit als Fortsetzung des staatlichen Strafvollzugs zu beurteilen ist. Diese Fragestellung zielt zum einen auf die Staatsnähe des Schutzaufsichtsvereins und zum anderen auf die Intentionen und Bedingungen seiner Tätigkeit. Unter den Schweizer Schutzaufsichtsvereinen war der sanktgallische Verein ein Ausnahmefall. Dies lag in seiner rechtlichen Situierung begründet: Als einziger Kanton verankerte St. Gallen 1838 die obligatorische Schutzaufsicht für entlassene Sträflinge im Gesetz. Die Ausführung der Schutzaufsicht legte die sanktgallische Regierung in die Hände eines privaten Vereins, der aus diesem Anlass gegründet wurde. Damit schuf sie eine höchst zwiespältige Situation: Als privater Verein mit gesetzlichem Auftrag bewegte sich der sanktgallische Schutzaufsichtsverein Zeit seines Bestehens an der Schnittstelle zwischen staatlichem Strafvollzug und privater Fürsorge. Die Auseinandersetzung mit seiner Rolle innerhalb der sanktgallischen Kantonsverwaltung fördert zutage, dass der Verein Züge einer privaten philanthropischen Organisation und einer staatlichen Behörde in sich vereinte.
Obwohl seine Situation gegenüber der sanktgallischen Staatsverwaltung nicht eindeutig definiert war, verfügte der Schutzaufsichtsverein über einen gesetzlichen Auftrag und eine entsprechende Legitimation. Seine Tätigkeit bestand darin, zu entlassenden Sträflingen einen Schutzaufseher zuzuweisen, der ihnen bei der Reintegration behilflich war. Unter Einsatz ihres sozialen Kapitals versuchten diese Schutzaufseher den Entlassenen Wohnung und Arbeit zu vermitteln. Hinzu kam eine Überwachung moralisch-sittlicher Art, die sicherstellen sollte, dass die Entlassenen nicht erneut straffällig wurden. In der Praxis zeigte sich, dass die Vereinsleitung, welche jährlich über Aufhebung oder Fortsetzung der Schutzaufsicht über einzelne Individuen entschied, der Arbeitstätigkeit die höchste Priorität zumass. Daraus wird ersichtlich, dass der Schutzaufsichtsverein Ziele verfolgte, welche gemeinhin unter dem Begriff der Sozialdisziplinierung zusammengefasst werden, konkret die Erziehung der Unterschicht zur Arbeitstätigkeit. Dieser Befund wird durch eine Analyse der Verhaltensweisen gestützt, welche die Vereinsleitung negativ beurteilten. Hier finden sich die klassischen Topoi der Sozialdisziplinierung, namentlich der Müssiggang und der Alkoholkonsum, kurz die Liederlichkeit.
Während die Ziele des Schutzaufsichtsvereins also deutlich im disziplinierenden Bereich anzusiedeln sind, entsprachen seine Durchsetzungsmöglichkeiten zu keiner Zeit diesen Ambitionen. Die Schutzaufseher verfügten kaum über Rechte, welche über diejenigen einer Privatperson hinausgingen, sondern waren auf ihre persönliche Autorität sowie auf vorhandene Machtgefälle angewiesen. Entsprechend oft versagten sie bei der Durchsetzung der Schutzaufsicht, was häufig die Flucht der Betreuten zur Folge hatte. Die Vereinsleitung verfügte zwar über weitergehende Kompetenzen, diese betrafen aber kaum die Phase der eigentlichen Schutzaufsicht, so dass auch von dieser Seite kaum Möglichkeiten zur Durchsetzung der Disziplinierung bestanden. Daraus wird deutlich, dass Intention und Wirklichkeit bei der Tätigkeit des Schutzaufsichtsvereins weit auseinanderklafften.