Verantwortung: Sarine Waltenspül / Mario Schulze / Estelle Blaschke
Podium: Silvy Chakkalakal / Sarine Waltenspül / Mario Schulze / Nils Güttler
Moderation: Estelle Blaschke
Die Podiumsdiskussion eröffneten ESTELLE BLASCHKE (Basel), SARINE WALTENSPÜL (Luzern) und MARIO SCHULZE (Basel) mit dem Plädoyer, dass es neue Modi des visuellen Denkens brauche. An der Schnittstelle von Geschichts- und Medienwissenschaften, den Digital Humanities, der Kunstpraxis sowie der Visual Science und Science and Technology Studies sollten Formen des Arbeitens mit dem Visuellen reflektiert werden. Ausgangspunkt bildete die Fragestellung, wie Forschende aus den Geisteswissenschaften dem Visuellen nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern auch als Methode gerecht werden können und in welcher Weise bzw. mithilfe welcher Werkzeuge sich das Visuelle erkenntnisstiftend in Forschungs- und Publikationsprozesse einbeziehen lässt. Inspiriert von den Science and Technology Studies brachten die drei Verantwortlichen des Podiums das Anliegen vor, das Visuelle aus seiner klassisch-illustrativen Funktion zu lösen. Der visual turn, der ab den 1990er Jahren auch in den Geschichtswissenschaften zu einer vermehrten Beschäftigung mit Bildquellen führte, sei daher als Ausgangspunkt eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses zu verstehen. Denken müsse nicht nur über Bilder stattfinden, sondern vielmehr mit und durch Bilder. Das Visuelle wird demnach von seiner vorherrschenden Funktion als historische Quelle befreit und als eigene epistemische Materie ins Zentrum gestellt. Es erhalte gar eine eigene Argumentationsform, führte Estelle Blaschke aus: «Seine Funktion ist nicht bloss eine subsumierende zum Text, sondern eine sublimierende zur schriftlichen Ausdrucksform.» Das visuelle Argumentieren wiederum werde so eine alternative, experimentelle Form der Wissensgenerierung. Als Grundlage für die spätere Diskussion verdeutlichten die Teilnehmenden des Podiums anhand eigener Projekte und Initiativen, wie solche innovativen visuellen Ansätze im Aufbau einer Forschungsumgebung, in der historischen Aufarbeitung von audiovisuellen Beständen sowie in Publikationsformaten umgesetzt werden.
Im ersten Beitrag legte SILVY CHAKKALAKAL (Zürich) die unmittelbare Verbindung zwischen der Visualität und der Postkolonialität dar. Im Zentrum standen Beispiele der visuellen Hervorbringungen im kolonialen Archiv, die Chakkalakal anhand verschiedener Werke der aktuellen Forschungsliteratur ausführte. Damit einher gingen Fragen nach der Bildlichkeit, aber auch der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit historischer Gewalt. Die Referentin stellte zwei methodologische Stränge vor, wie eine postkoloniale Geschichte visuell aufbereitet werden kann. Der eine Ansatz ist die critical fabulation, die Leerstellen der historischen Überlieferung kreativ zu behandeln vorschlägt, der andere die Forensik, die Spuren sammelt. Beide Ansätze teilen ethische und epistemologische Herausforderungen. Die grösste Schwierigkeit liege in der Frage, wie mit Bildmaterial aus gewaltvollen Kontexten umgegangen werden soll, führte Chakkalakal weiter aus. Im klassischen Sinne ist die Forensik mit juristischer und wissenschaftlicher Beweisführung verbunden: mit der Sicherung von Indizien, der Identifikation menschlicher Überreste, der Herstellung gerichtlicher Evidenz. Der Forschungsansatz der kritischen Forensik thematisiere hingegen die diskursiv-ethische Macht von Bildern. Das Visuelle habe somit eine besondere Deutungshoheit inne. Die Darstellung und Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, von kolonialen Kriegen und das Aufzeigen anderer gewaltvoller Geschichten erziele besonders viel Wirkung. In seiner Fähigkeit zur Irritation eröffne das Visuelle alternative Weisen des Sehens, Erinnerns und Urteilens, so Chakkalakal. Zu fragen gelte es aber auch, wer erinnert, wessen Spuren dargestellt, wer als Opfer verortet, wer sichtbar und wer unsichtbar gemacht werde. Die critical fabulation wiederum arbeite mit Werkzeugen des «Sampling, Tracking und Remixen». Zunächst werde de-konstruiert, gesammelt und aus den einzelnen Teilen eine neue Form, eine «Assemblage», zusammengesetzt. Hinter dieser Methode steht der Gedanke, normative und lineare Geschichtsschreibungen aufzubrechen und um alternative Erzählformen zu erweitern. Im Umgang mit dem Visuellen müsse reflektiert werden, welche Aspekte betont und welche ausgelassen werden, forderte Chakkalakal schliesslich.
Sarine Waltenspül (Luzern) thematisierte die Herausforderungen (audio-)visuellen Archivguts im digitalen Zeitalter. In der digitalen Welt sind Archive mit neuen technischen, juristischen und auch ethischen Fragen konfrontiert, die alle die Zugänglichkeit von Archivalien und somit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Sammlungen betreffen. Waltenspül führte aus, dass mit dem Aufkommen digitaler Technologien und der Künstlicher Intelligenz visuelle Sammlungen zunehmend ins Zentrum archivischer Praxis rücken – und zugleich die Ordnung des Archivs selbst verändern: Interfaces, Metadaten und algorithmische Strukturen schaffen neue Zugänge, aber auch neue Ausschlüsse. Am Beispiel der Encyclopaedia Cinematographica (EC), einer Sammlung wissenschaftlicher Filme, konkretisierte Waltenspül ihre Ausführungen. Um die sehr umfassende, vielfältige Sammlung von rund 3000 Filmen überhaupt erforschbar zu machen, haben sie und ihr Team mehrere Interfaces entwickelt, die verschiedene visuelle Aspekte in den Blick nehmen. Waltenspül verwies auf die Herausforderung im Umgang mit Filmen, die sich im Gegensatz zu Fotografien nicht problemlos digitalisieren lassen: Filme sind speicherintensiv, technisch anspruchsvoll und unterliegen oft unklaren rechtlichen Rahmenbedingungen. Standardisierte Verfahren und entsprechendes Fachwissen fehlten oftmals. Zugleich würden Fragen des Zugangs an Brisanz gewinnen – gerade bei Sammlungen mit kolonialem oder rassistischem Bildmaterial. Waltenspül beschrieb das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf freien Zugang zu Archivalien und der Notwendigkeit einer kritischen (Re-)Kontextualisierung problematischer Sammlungen. Entsprechendes Material dürfe nicht unkommentiert zirkulieren, sondern verlange eine Sichtbarmachung seiner ideologischen Prägungen. Digitale Archive, so ihr zentraler Befund, sind keine neutralen Speicher: Sie erzeugten durch ihre technischen Infrastrukturen, etwa durch Algorithmen, Ordnungen der Sichtbarkeit – und der Unsichtbarkeit.
Mario Schulze (Basel) präsentierte anschliessend sein Forschungsprojekt zur Sammlung wissenschaftlicher Filme, die das ehemalige Schweizerische Tropeninstitut in der Schweiz und in Tansania in der Lehre und Forschung gezeigt hatte. Dabei verknüpfte er Fragen der filmischen Provenienzforschung mit ethischen und epistemologischen Herausforderungen in der Aufbereitung audiovisueller Quellen. Schulze zeigte verschiedene Filmausschnitte und erläuterte, dass Filme historische Quellen und zugleich eigenständige Akteure wissenschaftlicher Weltaneignung sind. Die als Beispiele gezeigten Filme des Tropeninstituts seien doppelt gerahmt: als Forschungsinstrumente in der Geschichte der medizinisch-biologischen Forschung und als Gegenstände historiografischer Auseinandersetzung. Sie fungierten nicht nur als Belege innerhalb einer historischen Narration, sondern fordern, wie Schulze betont, stets auch eine kritische Reflexion ihres Eigenwerts – dessen, «was sich gerade nicht unmittelbar aus ihnen erschliessen lässt». Dargestellt sind in den Filmen Menschen, ihre Körper und ihre kulturellen Wissenspraktiken, ohne dass bei der Filmproduktion ihre Zustimmung eingeholt wurde, so Schulze. Die filmische Darstellung reproduziert somit nicht selten koloniale Hierarchien: Die Bildsprache suggeriert Objektivität, während sie in Wahrheit eine tiefgreifende normative Ordnung visualisiert. Für Schulze steht daher die Frage im Zentrum, wie mit solchen Darstellungen umgegangen werden kann. Die FAIR- und CARE-Prinzipien (Findability, Accessibility, Interoperability, Reusability vs. Collective Benefit, Authority to Control, Responsibility und Ethics) bieten hierbei Anhaltspunkte. Eine Herausforderung liege jedoch darin, audiovisuelle Archive für die Forschung oder sogar für die Öffentlichkeit online zugänglich zu machen, ohne dabei erneut koloniale und rassistische Machtasymmetrien zu reproduzieren. Als eine Möglichkeit, solche Quellen aufzubereiten, nannte Schulze kollaborativ verfasste Annotationen: Mithilfe von Interfaces werden Nutzerinnen und Nutzer zur Mitdiskussion eingeladen und somit in die Geschichtsnarration einbezogen. Betroffene und andere Interessierte können einzelne Sequenzen annotieren, kommentieren, kontextualisieren. Diese Kommentare würden eine multiperspektivische Lesart der Filme eröffnen und seien somit eine Form der fabulation. Zudem würden sie neue narrative Räume erschliessen, in denen ehemals marginalisierte Perspektiven sichtbar werden.
NILS GÜTTLER (Wien) sprach in seinem Beitrag über alternative Formen wissenschaftlicher Veröffentlichungen und stellte die konzeptionelle Arbeit des intercom Verlags vor. Dieser innovative Verlag ist auch bezüglich des Visuellen kein klassischer Verlag im herkömmlichen Sinne: Visualität werde nicht als illustratives Beiwerk verstanden, sondern als konstitutiver Bestandteil wissenschaftlicher Argumentation. In der verlegerischen Tätigkeit reflektiere intercom, wie Wissen, das visuell festgehalten ist, auch visuell publiziert werden kann – jenseits linearer Textformate. Als Beispiel nannte Güttler die Buchreihe Cache, die sowohl als Printpublikation als auch im digitalen Format erscheint. Das Konzept und der Name der Reihe verweisen einerseits auf einen temporären Speicher, wie aus der Informatik bekannt, und andererseits auf das französische Verb cacher (verstecken). Cache sei eine Art epistemologisches Zwischenlager. In wissenschaftlichen Kontexten, so Güttler, entstehen in kürzester Zeit enorme Materialmengen – etwa bei Archivaufenthalten, bei denen Historikerinnen und Historiker tausende von Bildern aufnehmen –, die jedoch nie direkt Eingang in die spätere Publikation finden. Cache greife dieses visuelle Übermass auf und überführe es in eine ästhetisch strukturierte Form der Zwischenlagerung, in der nicht Entsorgung, sondern Neuzusammenstellung das Prinzip sei. Cache solle einen Gegenentwurf zum herkömmlichen, produktorientierten Publizieren bilden und den veränderten Arbeitspraktiken von Forschungsgruppen gerecht werden. Im Publikationsverfahren des intercom Verlags komme dem Visuellen eine besondere Bedeutung zu, man fokussiere auf den Prozess der Erstellung einer Publikation. Diese Prozesshaftigkeit zielt auf den Versuch, Wissenschaft wieder als kollaborative und materielle Praxis in Form von Denkräumen erfahrbar zu machen.
Das Podium knüpfte an zentrale Debatten rund um das Arbeiten mit dem Visuellen an und verdeutlichte, dass die Geschichte des Visuellen – und die visuelle Geschichte – noch am Anfang stehen. Die verschiedenen Präsentationen, die sich jeweils einem eigenen Zugang zum übergeordneten Thema widmeten, zeigten unterschiedliche Formen des Umgangs mit und des Verständnisses von dem Visuellen. Die Beiträge führten vor Augen, wie vielgestaltig die Konzeption und der methodische Zugriff auf das Visuelle sein können. Dabei zeichnete sich eine grundsätzliche Tendenz ab: Das theoretische Nachdenken über das epistemische Potenzial des Visuellen hat an Tiefe gewonnen, während die technischen und methodischen Umsetzungen hinter der konzeptuellen Arbeit zurückbleiben. Es gelingt der Forschung nicht immer, mit ihrer Infrastruktur das Visuelle gänzlich als Akteur mit eigenen Wirkmechanismen einzufangen. Die Arbeit mit dem Visuellen bringt nicht nur technische, sondern auch ethische Herausforderungen mit sich. Umso nachvollziehbarer ist das wiederholt formulierte Anliegen der Diskutierenden: Es bedarf sowohl Forschung als auch Infrastruktur, die das Visuelle nicht nur als Medium der Darstellung, sondern als analytisches Zentrum begreift und zugleich für experimentelle Formen im Umgang mit Bildmaterial in geisteswissenschaftlichen Kontexten offen ist.