Bilder als Brücken: Graphic Novels als Mittel zur Sichtbarmachung historischer Gewalterfahrungen

Autore del rapporto
Tommaso
Sorrentino
Universität Bern
Citation: Sorrentino Tommaso: « Bilder als Brücken: Graphic Novels als Mittel zur Sichtbarmachung historischer Gewalterfahrungen », infoclio.ch Tagungsberichte, 12.08.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0346>, consulté le 21.08.2025

Verantwortung: Sabine Rutar / Franziska Zaugg

Referierende: Franziska Zaugg / Jared Muralt / Veronika Springmann / Athena Grandis / Béatrice Gysin / Mirjam Janett

 

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SABINE RUTAR (Regensburg) eröffnete das Panel mit der Frage, ob und wie Graphic Novels ein adä­quates Medium zur Sichtbarmachung und Vermittlung historischer Gewalterfahrungen sein können. Zwar liessen sich Graphic Novels als erinnerungskulturelle Schlüsselmomente deuten, wobei aller­dings offenbleibe, wie sich eine empathische Annäherung an die Opfer historischer Gewalt metho­disch überzeugend gestalten lasse. Rutar verwies dabei auf ein gemeinsames Projekt mit FRAN­ZISKA ZAUGG (Fribourg), das vier Biographien von Betroffenen in Form von Graphic Novels erzählt. Dieses Projekt folgt einem dialogischen Ansatz mit Elementen der Oral History, der Überle­bende mit gegen­wärtigen Erzählformen aktiv in die Entstehung der Graphic Novels einbezieht. Die Vorträge des Pa­nels waren als dialogisch geführte Gespräche gestaltet, die die vielschichtigen Ent­stehungsdyna­mi­ken einer solchen Graphic Novel nachvollziehbar und theoretisch reflektierbar ma­chen sollten.

Zaugg und JARED MURALT (Bern) präsentierten ihr zweijähriges Graphic-Novel-Projekt zur Verfol­gung der Roma und Romnja während der Jugoslawienkriege. Gerade diese Gruppe werde in erinne­rungspolitischen Debatten häufig übersehen oder anderen Opfergruppen subsumiert, wie Zaugg be­tonte. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte einer Romni aus der Vojvodina unter dem Pseudo­nym Ružica, mit der Diskriminierung sowie familiäre und sexualisierte Gewalt durch serbische Para­militärs thematisiert werden. Durch Ružicas Geschichte werde die zunehmende Marginalisierung der Roma und Romnja nach dem ethnonationalistischen Zerfall ab 1991 sichtbar: Während unter Josip Broz Tito im sozialistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien eine begrenzte gesellschaftliche Teilhabe möglich war, verengte sich dieser Spielraum ab Mitte der 1980er Jahre, besonders mit dem Erstarken des Übernationalismus unter Slobodan Milošević. Muralt arbeitete dabei eng mit der betroffenen Frau zusammen und betonte seine Verantwortung als Zeichner, diese Erzählung möglichst authen­tisch und mit grösstmöglicher Neutralität visuell umzusetzen. Die Gewaltdarstellungen bleiben im­plizit und sind in der Rahmenerzählung der Figur verankert. Zaugg betonte abschliessend, dass diese Art von fiktionalisierter Personalisierung nicht nur für eine individuelle Lebensgeschichte stehe, sondern stellvertretend auch jenen eine Stimme geben soll, die nicht mehr sprechen können. Der dazugehörige Essayteil, der die Graphic Novel historisch kontextualisiert, fördere zudem die An­schlussfähigkeit an geschichtswissenschaftliche und geschichtsdidaktische Auseinander-setzungen.

Im zweiten Gespräch ging es um eine Graphic Novel von ATHENA GRANDIS (Berlin) und VERONIKA SPRINGMANN, in Luzern vertreten durch Franziska Zaugg, die sich mit der Darstellung von Gewalt im Nationalsozialismus durch Sportpraktiken in Konzentrationslagern beschäftigt. Diese entstand im Anschluss an Springmanns Forschung, dass Sport in den Konzentrationslagern sowohl ein Instru­ment der Demütigung als auch Ausdruck von Handlungsspielräumen war. Zeichnungen und Aussa­gen von Häftlingen, Archivmaterial sowie Verhörprotokolle bildeten die historische Grundlage für Grandis’ künstlerische Umsetzung. Die Er­zählung folgt aus der Ich-Perspektive einem fiktiven jüdi­schen Häftling in Sachsenhausen. Im Fokus steht die Frage, weshalb Aufseher sportliche Praktiken, die ursprünglich zur körperlichen Stärkung der Häftlinge intendiert waren, als Mittel zur Demütigung und physischen Zermürbung nutzten. So verweisen Quellen wie Nachkriegsverhöre und Häftlings­zeichnungen auf den gewaltvollen Charakter von Sportpraktiken im Gefängnis, während Fussball­spielen zugleich als Handlungsspielraum im All­tag der ins Konzentrationslager deportierten Men­schen erscheint. Die Herausforderung bestand deshalb darin, sportliche Aktivitäten visuell im Span­nungsfeld von Zwang und Handlungsspielraum umzusetzen. Zugleich unterstrich Grandis, dass Ge­walt keinesfalls verharmlost werden dürfe, wobei gerade durch Haptik und visuelle Gestaltung die subjektiven Erfahrungen der Häftlinge verdeutlicht werden können. Beispielsweise erscheinen die Wächter aus der Vogelperspektive über der anony­misierten Häftlingsmasse und verweisen visuell auf die hierarchischen Gefängnisstrukturen. Die Graphic Novel endet mit Bildern von Schlafsälen, zurückgelassenen Koffern und Zwangsarbeit be­wusst düster: Zwar werden die Häftlinge der Erzäh­lung nach Auschwitz deportiert, der fiktionale Pro­tagonist bleibt allerdings im Lager und spielt wei­terhin Fussball – nicht zur Verharmlosung, sondern als bewusster Kontrast zur in dieser Zeit allge­genwärtigen Gewalt.

Im letzten Gespräch stand strukturelle Gewalt in der Schweiz des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt, dargestellt anhand der Graphic Novel «BERTA», initiiert von BÉATRICE GYSIN (Biel), mit Texten von Bettina Wohlfender und historiografischer Begleitung durch MIRJAM JANETT (Basel). Das Projekt er­zählt die Geschichte von Gysins Grossmutter (geb. 1884), die bereits im Kleinkindalter fremdplatziert und später ausgebürgert wurde. Janett betonte, dass «BERTA» als Spiegel der Schweizer Sozialge­schichte jener Zeit gelesen werden könne. Die biografische Nähe erwies sich dabei für Gysin als Her­ausforderung und das Projekt konnte erst in der Zusammenarbeit mit Janett inhaltlich verdichtet werden. Grundlage bilden Fotografien aus «BERTA»s Leben, Erinnerungen von Gysins Mutter («BERTA»s Tochter) sowie gezeichnete Erinnerungen der Enkelin an die Grossmutter, die tief vom familiären Nachhall der damaligen Gewalt geprägt seien. Das poetische Erzählen jenseits histori­scher Faktentreue sei gemäss Janett ein produktiver Zugang, um diese Spuren familiär tradierter Gewalt sichtbar zu machen. Statt direkter Gewalterfahrungen rücke die Graphic Novel Alltagsszenen in den Vordergrund. Das Projekt sei von einer «Lawine von Übersetzungen» geprägt, so Janett, und meint damit die vielschichtige Übersetzungsarbeit zwischen Erinnerung, historischem Referenzrah­men und künstlerischer Form.

In der anschliessenden Diskussion wurde unter anderem die Frage nach dem Quellenstatus von Gra­phic Novels aufgeworfen. Zaugg wies diesen ausdrücklich zurück und betonte, es handle sich dabei um Übersetzungsleistungen, die Gewalterfahrungen durch Visualisierung und Personalisierung sichtbar und reflektierbar machen sollen. Rutar ergänzte, dass der Prozess der Bildwerdung eine erzählerische Authentizität besitze und resümierte, dass Graphic Novels ein Medium seien, um das Sprechvermögen von Überlebenden jenseits von traumatischen Erfahrungen sichtbar zu machen. Graphic Novels eröffnen so auch neue Zugänge zur geschichtsdidaktischen Vermittlung von Gewalt.

Alle Beiträge zeigten, dass die Sichtbarkeit historischer Gewalterfahrungen in Graphic Novels aus einem vielschichtigen Zusammenspiel von Machtverhältnissen, Erinnerung und Bildsprache resul­tiert, die neue Zugänge zur «klassischen» Historiografie und Geschichtsvermittlung eröffnet. Zu­gleich ermöglichen Graphic Novels auf innovative Weise eine empathisch-visuelle Auseinanderset­zung mit historischen Gewalterfahrungen, indem sie sprachliche Grenzen überschreiten, durch vi­suelle Codierungen Bedeutung erzeugen und Betroffenen Ausdrucksräume jenseits des Sagbaren eröffnen.

 

Panelübersicht:

Franziska Zaugg, Jared Muralt: Roma-Verfolgung und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre

Veronika Springmann, Athena Grandis: Gewalt im Nationalsozialismus

Béatrice Gysin, Mirjam Janett: «BERTA». Ein Frauenleben im 20. Jahrhundert

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Manifestazione
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organizzato da
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Data della manifestazione
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Luogo
Luzern
Lingua
Tedesco
Report type
Conference