Verantwortung: Sabine Rutar / Franziska Zaugg
Referierende: Franziska Zaugg / Jared Muralt / Veronika Springmann / Athena Grandis / Béatrice Gysin / Mirjam Janett
SABINE RUTAR (Regensburg) eröffnete das Panel mit der Frage, ob und wie Graphic Novels ein adäquates Medium zur Sichtbarmachung und Vermittlung historischer Gewalterfahrungen sein können. Zwar liessen sich Graphic Novels als erinnerungskulturelle Schlüsselmomente deuten, wobei allerdings offenbleibe, wie sich eine empathische Annäherung an die Opfer historischer Gewalt methodisch überzeugend gestalten lasse. Rutar verwies dabei auf ein gemeinsames Projekt mit FRANZISKA ZAUGG (Fribourg), das vier Biographien von Betroffenen in Form von Graphic Novels erzählt. Dieses Projekt folgt einem dialogischen Ansatz mit Elementen der Oral History, der Überlebende mit gegenwärtigen Erzählformen aktiv in die Entstehung der Graphic Novels einbezieht. Die Vorträge des Panels waren als dialogisch geführte Gespräche gestaltet, die die vielschichtigen Entstehungsdynamiken einer solchen Graphic Novel nachvollziehbar und theoretisch reflektierbar machen sollten.
Zaugg und JARED MURALT (Bern) präsentierten ihr zweijähriges Graphic-Novel-Projekt zur Verfolgung der Roma und Romnja während der Jugoslawienkriege. Gerade diese Gruppe werde in erinnerungspolitischen Debatten häufig übersehen oder anderen Opfergruppen subsumiert, wie Zaugg betonte. Im Mittelpunkt steht die Lebensgeschichte einer Romni aus der Vojvodina unter dem Pseudonym Ružica, mit der Diskriminierung sowie familiäre und sexualisierte Gewalt durch serbische Paramilitärs thematisiert werden. Durch Ružicas Geschichte werde die zunehmende Marginalisierung der Roma und Romnja nach dem ethnonationalistischen Zerfall ab 1991 sichtbar: Während unter Josip Broz Tito im sozialistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien eine begrenzte gesellschaftliche Teilhabe möglich war, verengte sich dieser Spielraum ab Mitte der 1980er Jahre, besonders mit dem Erstarken des Übernationalismus unter Slobodan Milošević. Muralt arbeitete dabei eng mit der betroffenen Frau zusammen und betonte seine Verantwortung als Zeichner, diese Erzählung möglichst authentisch und mit grösstmöglicher Neutralität visuell umzusetzen. Die Gewaltdarstellungen bleiben implizit und sind in der Rahmenerzählung der Figur verankert. Zaugg betonte abschliessend, dass diese Art von fiktionalisierter Personalisierung nicht nur für eine individuelle Lebensgeschichte stehe, sondern stellvertretend auch jenen eine Stimme geben soll, die nicht mehr sprechen können. Der dazugehörige Essayteil, der die Graphic Novel historisch kontextualisiert, fördere zudem die Anschlussfähigkeit an geschichtswissenschaftliche und geschichtsdidaktische Auseinander-setzungen.
Im zweiten Gespräch ging es um eine Graphic Novel von ATHENA GRANDIS (Berlin) und VERONIKA SPRINGMANN, in Luzern vertreten durch Franziska Zaugg, die sich mit der Darstellung von Gewalt im Nationalsozialismus durch Sportpraktiken in Konzentrationslagern beschäftigt. Diese entstand im Anschluss an Springmanns Forschung, dass Sport in den Konzentrationslagern sowohl ein Instrument der Demütigung als auch Ausdruck von Handlungsspielräumen war. Zeichnungen und Aussagen von Häftlingen, Archivmaterial sowie Verhörprotokolle bildeten die historische Grundlage für Grandis’ künstlerische Umsetzung. Die Erzählung folgt aus der Ich-Perspektive einem fiktiven jüdischen Häftling in Sachsenhausen. Im Fokus steht die Frage, weshalb Aufseher sportliche Praktiken, die ursprünglich zur körperlichen Stärkung der Häftlinge intendiert waren, als Mittel zur Demütigung und physischen Zermürbung nutzten. So verweisen Quellen wie Nachkriegsverhöre und Häftlingszeichnungen auf den gewaltvollen Charakter von Sportpraktiken im Gefängnis, während Fussballspielen zugleich als Handlungsspielraum im Alltag der ins Konzentrationslager deportierten Menschen erscheint. Die Herausforderung bestand deshalb darin, sportliche Aktivitäten visuell im Spannungsfeld von Zwang und Handlungsspielraum umzusetzen. Zugleich unterstrich Grandis, dass Gewalt keinesfalls verharmlost werden dürfe, wobei gerade durch Haptik und visuelle Gestaltung die subjektiven Erfahrungen der Häftlinge verdeutlicht werden können. Beispielsweise erscheinen die Wächter aus der Vogelperspektive über der anonymisierten Häftlingsmasse und verweisen visuell auf die hierarchischen Gefängnisstrukturen. Die Graphic Novel endet mit Bildern von Schlafsälen, zurückgelassenen Koffern und Zwangsarbeit bewusst düster: Zwar werden die Häftlinge der Erzählung nach Auschwitz deportiert, der fiktionale Protagonist bleibt allerdings im Lager und spielt weiterhin Fussball – nicht zur Verharmlosung, sondern als bewusster Kontrast zur in dieser Zeit allgegenwärtigen Gewalt.
Im letzten Gespräch stand strukturelle Gewalt in der Schweiz des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt, dargestellt anhand der Graphic Novel «BERTA», initiiert von BÉATRICE GYSIN (Biel), mit Texten von Bettina Wohlfender und historiografischer Begleitung durch MIRJAM JANETT (Basel). Das Projekt erzählt die Geschichte von Gysins Grossmutter (geb. 1884), die bereits im Kleinkindalter fremdplatziert und später ausgebürgert wurde. Janett betonte, dass «BERTA» als Spiegel der Schweizer Sozialgeschichte jener Zeit gelesen werden könne. Die biografische Nähe erwies sich dabei für Gysin als Herausforderung und das Projekt konnte erst in der Zusammenarbeit mit Janett inhaltlich verdichtet werden. Grundlage bilden Fotografien aus «BERTA»s Leben, Erinnerungen von Gysins Mutter («BERTA»s Tochter) sowie gezeichnete Erinnerungen der Enkelin an die Grossmutter, die tief vom familiären Nachhall der damaligen Gewalt geprägt seien. Das poetische Erzählen jenseits historischer Faktentreue sei gemäss Janett ein produktiver Zugang, um diese Spuren familiär tradierter Gewalt sichtbar zu machen. Statt direkter Gewalterfahrungen rücke die Graphic Novel Alltagsszenen in den Vordergrund. Das Projekt sei von einer «Lawine von Übersetzungen» geprägt, so Janett, und meint damit die vielschichtige Übersetzungsarbeit zwischen Erinnerung, historischem Referenzrahmen und künstlerischer Form.
In der anschliessenden Diskussion wurde unter anderem die Frage nach dem Quellenstatus von Graphic Novels aufgeworfen. Zaugg wies diesen ausdrücklich zurück und betonte, es handle sich dabei um Übersetzungsleistungen, die Gewalterfahrungen durch Visualisierung und Personalisierung sichtbar und reflektierbar machen sollen. Rutar ergänzte, dass der Prozess der Bildwerdung eine erzählerische Authentizität besitze und resümierte, dass Graphic Novels ein Medium seien, um das Sprechvermögen von Überlebenden jenseits von traumatischen Erfahrungen sichtbar zu machen. Graphic Novels eröffnen so auch neue Zugänge zur geschichtsdidaktischen Vermittlung von Gewalt.
Alle Beiträge zeigten, dass die Sichtbarkeit historischer Gewalterfahrungen in Graphic Novels aus einem vielschichtigen Zusammenspiel von Machtverhältnissen, Erinnerung und Bildsprache resultiert, die neue Zugänge zur «klassischen» Historiografie und Geschichtsvermittlung eröffnet. Zugleich ermöglichen Graphic Novels auf innovative Weise eine empathisch-visuelle Auseinandersetzung mit historischen Gewalterfahrungen, indem sie sprachliche Grenzen überschreiten, durch visuelle Codierungen Bedeutung erzeugen und Betroffenen Ausdrucksräume jenseits des Sagbaren eröffnen.
Panelübersicht:
Franziska Zaugg, Jared Muralt: Roma-Verfolgung und die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre
Veronika Springmann, Athena Grandis: Gewalt im Nationalsozialismus
Béatrice Gysin, Mirjam Janett: «BERTA». Ein Frauenleben im 20. Jahrhundert