Von Kohle, Kumpels und Kommerz. Wie der Fussball als Erinnerungskultur im Ruhrgebiet des 20. Jahrhunderts kollektive Identitäten prägte

Cognome dell'autore
Julien
Schafroth
Cognome del docente
Prof.
Joachim
Eibach
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2022/2023
Abstract

In der Masterarbeit geht es um die Fragen, wie im Ruhrgebiet kollektive Fussballidentitäten entstanden und welche Überschneidungen der Mythos des SV Sodingen mit nationalen Mythen aufweist. Die Antworten darauf liefern neue Erkenntnisse darüber, wie das kollektive Gedächtnis, wie es Maurice Halbwachs sowie Jan und Aleida Assmann beschrieben haben, funktioniert. Ausgehend von der Feststellung, dass aufgrund der emotionalen Verbundenheit der Fussballliebhabenden mit der Disziplin die Erinnerung an vergangene Ereignisse zur Mythisierung tendiert, werden verschiedene Mythen im Fussballsport beschrieben, welche auch in der Fallstudie betreffend den Herner Vorortverein SV Sodingen vorzufinden sind. Dabei werden das Aufkommen von Stars in einer Mannschaftssportart, das Phänomen der Derbys, welche aufgrund ihrer Abgrenzung von Anderen äusserst sinnstiftend für kollektive Identitäten wirken, sowie mythisierte Ereignisse wie die Erfolge des FC Schalke 04 in den dreissiger Jahren und der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 untersucht.

In einem weiteren Schritt stellt die Arbeit dar, wie aufgrund der Krisen, welche der gesamtdeutsche Fussballsport nach der Gründung der Bundesliga 1962 durchlebte, die Glanzzeit des SV Sodingen in den Köpfen der Menschen zur „guten alten Zeit“ stilisiert wurde. Dabei steht auch die Kommerzialisierung des Sports ab der Mitte der achtziger Jahre im Fokus. Um die immer weiter zurückgehenden Zuschauerzahlen wieder anzukurbeln, begannen in jener Zeit Fussballmanager wie Uli Hoeness damit, ihre Vereine zu vermarkten. Im Zuge dessen blieb von der einstigen Sportart kaum mehr etwas übrig. Der Fussball wurde zu einem Geschäftszweig verwertet, indem lokale Identitäten als Marketinginstrument sowie als Produkt verkauft wurden. Diese kommerzielle Verwendung von kollektiven Selbstbildern kurbelte die Erinnerungskultur an vermeintlich besseren Zeiten an, in denen die heute vermarktete „Gemeinschaft“ noch tatsächlich existiert haben soll.

Die Arbeit zeigt jedoch auf, dass die Mythisierung des Fussballsports in Deutschland bereits viel früher, nämlich zeitgleich mit dem Aufkommen der Sportart im späten 19. Jahrhundert, begann. Bereits Konrad Koch, der erste Lehrer der in Deutschland den Fussball unterrichtete, erdichtete der Disziplin zwecks ihrer gesellschaftlichen Legitimierung eine deutlich ältere Verwurzelung in der Geschichte an, als sie tatsächlich hatte. Erst ab Mitte der 1980er Jahre, als der Fussball in Deutschland aufgrund des Bundesligaskandals und des Zuschauerschwunds eine krisenhafte Zeit durchlebte, entstanden Rückbezüge, welche die Vergangenheit der Sportart und die damit verbundenen gesellschaftlichen Ereignisse in einem romantisierenden Licht widerspiegelten.

Die Kultur des Sich-Erinnerns weist in fast allen Funktionsweisen Prallelen dazu auf, wie nationale Mythen konstruiert werden. Die Geschichte des kleinen SV Sodingen verdeutlicht dies. Da die Auseinandersetzung mit der Historie des Vereins immer auf eine emotionale und sich sehnende Art und Weise geschah, führte sie oftmals zur Mythisierung der Vergangenheit. Die Geschichten um den SVS wurden sinnstiftend und identitätsbildend erzählt und behandelt. Mythen von Derbys und der Ächtung des „Kumpelclubs“ durch den Verband entstanden. Die Arbeit zieht deshalb im letzten Abschnitt einige Vergleiche zwischen bekannten nationalen Mythen und den kleinen Geschichten um den SV Sodingen.