Aussenbeziehungen als kommunikative Praxis. Das Fürstentum Neuchâtel und die französisch-preussischen Beziehungen im 18. Jahrhundert

Cognome dell'autore
Nadir
Weber
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Christian
Windler
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2012/2013
Abstract
Politische Aussenbeziehungen im 18. Jahrhundert gelten auch in neueren Forschungen als eine von der Einflussnahme intermediärer Gewalten weitgehend losgelöste Sphäre monarchischen Handelns. In besonderem Masse verbreitet ist dieses Bild für die preussische Monarchie, deren Aussenpolitik spätestens unter Friedrich II. allein vom königlichen Kabinett in Potsdam gesteuert worden sei. Diese Deutung steht im Kontrast zu den Befunden der neueren Herrschaftsforschung, die das ständische Eigenleben in den einzelnen Territorien der composite monarchy und die Ko- operation zwischen Krone und lokalen Eliten hervorgehoben hat. Die Dissertation unterzieht ausgehend von diesen Befunden das Bild einer „absolutistischen“ Aussenpolitik im Ancien Régime einer kritischen Überprüfung und fragt mithilfe der übergeordneten Kategorie der „politischen Beziehung“ nach den Interdependenzen zwischen Aussenbeziehungen und Herrschaftspraxis. Im Zentrum der Analyse steht das Fallbeispiel des Fürstentums Neuchâtel, das 1707 in den Besitz der Hohenzollern gelangte und sich aufgrund seiner ausgeprägten Grenzlage besonders dafür eignet, den Zusammenhängen zwischen vertikalen und horizontalen politischen Beziehungen nachzugehen. Nicht zufällig findet sich im „Neuchâtel-Generalia“-Bestand des Geheimen Staatsarchivs Preussischer Kulturbesitz denn auch umfangreiche Korrespondenz mit auswärtigen Obrigkeiten und preussischen Gesandten. Nebst weiterem obrigkeitlich-diplomatischen Schriftverkehr in mehreren französischen und Schweizer Archiven wurden für die Untersuchung auch die Bestände lokaler Korporationen, Unternehmen und Familien in Neuchâtel herangezogen. Durch mehrfache „Überkreuzungen“ – des Gegenstands, der Methoden, der Ebenen – sollte der Komplexität des politischen Interdependenzgeflechts analytisch und in der Darstellung Rechnung getragen werden. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile, die den Untersuchungsgegenstand unter den Titeln „Szenarium“, „Interaktionen“ und „Konfrontationen“ unterschiedlich perspektivieren. Im ersten Darstellungsteil wird der Frage nachgegangen, wie die preussische Herrschaft über das Fürstentum Neuchâtel funktionierte und welche Akteure in diesem „Spiel der Interessen“ mitspielten. Dabei kann aufgezeigt werden, dass sich die auf den ersten Blick prekäre Distanzherrschaft aufgrund der gegensätzlichen Interessen der regionalen Vormächte – Frankreich und die Republik Bern – nicht nur als relativ stabil, sondern sowohl für Herrscher wie für die Untertanen als vorteilhaft erwies: Die Neuenburger konnten mithilfe ihrer Aussenkontakte ihre weitgehenden Privilegien und Autonomierechte wahren und zugleich von Ämtern, Titeln und Protektionsleistungen der aufstrebenden Monarchie profitieren; die preussische Krone wiederum konnte die Beziehungen des „zugewandten“ Fürstentums zu den eidge- nössischen Orten sowie das grenzüberschreitende soziale Kapital der Neuenburger Patrizier für ihre europäische Grossmachtpolitik nutzen. Der zweite Teil der Arbeit betrachtet Aussen- wie Herrschaftsbeziehungen als kommunikative Praxis. Ausgehend von einer Analyse der Medien und Semantiken politischer Beziehungen werden idealtypisch vier verschiedene Ebenen oder Wege unterschieden, über die lokalspezifische Angelegenheiten wie beispielsweise die Handelsprivilegien der Neuenburger in Frankreich oder der Grenzverlauf des Fürstentums verhandelt wurden: über lokale Amtsträger, die in den „Aussenbeziehungen vor Ort“ als Deputierte oder Kommissare agierten; über Praktiken des mündlichen oder schriftlichen Briefings bei Ver- handlungen auf der Ebene der Diplomatie der Souveräne; über den „Königsweg“ der preussi- schen Gesandten aus Neuchâtel, die in einer Doppelrolle als königliche Repräsentanten und Agenten ihrer Patrie handelten, oder über die in- formalen Wege personeller Aussenverflechtungen. Am Beispiel der Verhandlungen um den Einschluss Neuchâtels in die französisch- eidgenössische Allianz wird aufgezeigt, wie diese verschiedenen Wege teils parallel beschritten, teils voneinander abgelöst wurden. Grenzüberschreitende Verhandlungen mit Lokalitätsbezug, so ein Fazit dieses Teils, waren dabei stets auf engste mit herrschaftsinternen Aushandlungsprozessen verschränkt. Im dritten Teil der Darstellung stehen Phasen der Konfrontation, das heisst des antagonistischen Austrags von Interessengegensätzen wie Kriege und Herrschaftskonflikte im Fokus. Auch hier zeigen sich starke Interdependenzen zwischen den verschiedenen Formen politischer Beziehungen. So blieb das Fürstentum während der französisch-preussischen Kriege des 18. Jahrhunderts zwar jeweils dank eidgenössischer Neutralitätsgarantien von Kampfhandlungen verschont, doch hatten diese Ereignisse grosse Auswirkungen auf die lokalen Machtbalancen: Zum einen sah sich die lokale Obrigkeit jeweils gezwungen, französischen Forderungen angesichts der stets möglichen Invasion stärker nachzugeben, zum anderen verstärkte sich aber zugleich ihre Position der Untertanen gegenüber dem preussischen Landesherrn. Waren diese Konstellationen eher temporärer Natur, brachten die Französische Revolution und die Revolutionskriege schliesslich einen grundlegenderen Umbruch mit sich. Im Rahmen neuer nationalstaatlicher und geopolitischer Ordnungsschemata wurde das Fürstentum in der Sicht des preussischen Hofes nun zu einem unhaltbareren Sonderfall. Die vertragliche Abtretung an den französischen Kaiser im Frühjahr 1806 erschien daraus als logische Konsequenz. Die Überkreuzung der verschiedenen Per- spektiven ergibt den Befund, dass die Aussenbeziehungen der preussischen Monarchie nicht einmal ihrem Anspruch nach „absolutistisch“ waren. Zum einen konnten ständische Körperschaften weiterhin selbständige Aussenkontakte unterhalten, zum anderen partizipierten lokale Akteure in der Regel auch an Verhandlungen, die im Namen des Souveräns zu ihrem Territorium geführt wurden. Da Anliegen, die durch die königliche Diplomatie verhandelt wurden, grössere Erfolgschancen hatten, wurden Zentralisierungsprozesse aber durchaus in Kauf genommen oder gar „von unten“ initiiert, wenn die Untertanen ihre Interes- sen auf höherer Ebene hinreichend vertreten sahen. Mithilfe des längeren Arms der preussischen Diplomatie gewannen die Einwohner des Fürs- tentums Neuchâtel so im Verkehr mit ihren Nachbarn erheblich an Verhandlungsgewicht, während zugleich die obrigkeitliche Position des Landesherrn gestärkt wurde – ein Mechanismus, der sich als empowering interaction beschreiben lässt. Der Begriff der „zusammengesetzten Diplo- matie“ bezeichnet schliesslich alle Arrangements, die sich aus der heterogenen Struktur des preussischen Herrschaftssystems auf die im Namen des Souveräns geführten Aussenbeziehungen ergaben: die Parallelität verschiedener Verhandlungs- ebenen, die Mitsprache lokaler Akteure bei Verhandlungen, die ihr Territorium betrafen, sowie die potentielle Doppelrolle von Diplomaten als Vertreter des Königs und ihres Herkunftslandes. Diese Arrangements machten die Diplomatie kostengünstiger, in Bezug auf die Regelung lokalspezifischer Probleme effizienter und wirkten sich herrschaftsstabilisierend aus. Indes waren politische Aussenbeziehungen dadurch auch eher lose koordiniert und vom Entscheidungszentrum aus nur begrenzt kontrollierbar, was die Arran- gements am Übergang zum Zeitalter der Nationalstaaten an ihre funktionalen Grenzen stossen liess. Wenngleich bisher Untersuchungen mit einem vergleichbaren Ansatz fehlen, besteht Grund zur Annahme, dass sich das Modell auf weitere Herrschaftsräume im 18. Jahrhundert sowie auf die meisten grösseren politischen Systeme des 16. und 17. Jahrhunderts übertragen lässt, als Herrschaft in Europa generell noch einen stärker ausgeprägten „zusammengesetzten“ Charakter aufwies.

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