Die Zunftgesellschaft zu Schmieden in Bern zwischen Tradition und Moderne

Cognome dell'autore
Daniel
Schläppi
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Martin
Körner
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
1999/2000
Abstract

Diese Dissertation verbindet zeitgemässe Forschungsansätze zu Demographie, Fürsorgepolitik, Finanz- und Mentalitätsgeschichte sowie kommunaler Verwaltung mit Ergebnissen und Methoden moderner Bürgertums-, Soziabilitäts-, Eliten- und Geschlechterforschung. Basierend auf statistischer Erhebung von mehr als 7500 Personen wird eine vielschichtige Kollektivbiographie konstruiert, wobei allgemein-, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte auf der einen Seite, berühmte historische Akteure und unbekannte Individuen auf der anderen Seite konturiert werden. Der Einbezug von Tagebüchern und andern persönlichen Dokumenten erlaubt, Einzelschicksale und subjektive Perspektiven mit strukturellen Befunden zu vergleichen.

 

Die Arbeit hinterfragt gängige Glaubensgrundsätze bernischer Geschichte. Beispielsweise wird aufgezeigt, dass kaum zu unterscheiden ist, was «altbewährt» oder «neu» beziehungsweise «traditionell» oder «modern» ist. Anhand struktureller Befunde zum Finanz- und Fürsorgewesen wird nachgewiesen, dass zur Verfolgung traditioneller Ziele moderne Strategien und Methoden angewendet wurden, die altem Herkommen wenigstens vordergründig widersprachen. Dazu zählten spekulative Vermögensbewirtschaftung ebenso wie Kooperation mit der wissenschaftlichen Psychiatrie im Vormundschaftswesen. Burgerliche Überlieferung stellte die zögerliche Liberalisierung der Einburgerungspolitik stets als ideologische Öffnung und heimatrechtliche Errungenschaft dar. Just in der Aufnahmepraxis kamen sehr traditionelle Muster zum Ausdruck. Statt mit notabeln Standeseliten wie im Ancien Régime ergänzten sich die burgerlichen Korporationen neuerdings mit professionellen Leistungseliten.

 

Wie vermeintlich Modernes alte Wurzeln haben konnte, so brauchten beschworene Traditionen und altbernisches Brauchtum keineswegs «alt» zu sein. Vor allem das gesellige Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts war eine Folge veränderter soziokultureller Befindlichkeiten. Um dem schleichenden Zerfall des Gemeinsinns entgegenzuwirken, welchen urbanisierte Lebensformen mit sich brachten, musste gesellschaftliches Leben neu erfunden und unter erheblichem Aufwand institutionalisiert werden.

 

Auch die sozioprofessionelle und demographische Struktur Schmiedens wurde von traditionellen Erscheinungen ¸berwölbt. Während sich letzte Nachfahren berühmter Söldner- und Reisläuferdynastien nach Neapel und Übersee verdingten, drängten neue Berufsleute modernen Zuschnitts in die Zunft. Noch hielten sich altburgerliche Näherinnen in der Unterstadt nur mit finanziellen Beiträgen der Zunft über Wasser, schon schweiften die Vertreter moderner männlicher Berufseliten auf Ozeandampfern in alle Herren Länder aus. Das Patriziat war in der Tradition des Ancien Régime noch auf Stellen in Verwaltung, Diplomatie und Militärkarrieren aus, als Neuburger Wander seine Ovomaltine en gros vermarktete. In Bezug auf die burgerlichen Gesellschaften kann deshalb von einer «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» gesprochen werden. Noch stärker als innerhalb der altbernischen Korporationen manifestierte sich asynchrones Neben- und manchmal auch Gegeneinander von Gesellschafts- und Wertesystemen im stadtbernischen Alltag. Wenn immer Machtpositionen auszuhandeln waren, kam es zu scharfen Auseinandersetzungen. Die erbitterte Ausmarchung zwischen Einwohner- und Burgergemeinde sollte erst dank der Reorganisation der Burgergemeinde im Jahr 1888 ihr Ende finden.


 

Seit den 1860er Jahren hatte Schmieden unter ƒgide des visionär-konservativen Albert Zeerleder (1838-1900) eine vergleichsweise aktive Einburgerungspraxis betrieben. Obwohl viele Neuburger Integrationsbereitschaft signalisierten und diese mit ehrenamtlichen Diensten unter Beweis stellten, mussten jahrhundertealte Gräben zwischen den historisch legitimierten Standeseliten und den ohne vorzeigbare Abstammung angetretenen bürgerlichen Aufsteigern überwunden werden. Die Schmiedenburger alten Herkommens zeigten sich den Annäherungswilligen keineswegs abgeneigt und begegneten den Integrationswünschen «neuer Familien» mit nachhaltigen Einbindungsstrategien. Systematische Vereinnahmung zeitgemässen Fachwissens trug entscheidend zur institutionellen Kontinuität bei. Gleichzeitig kam ein struktureller Wandel der Mitgliederstruktur in Gang, der sich in jüngster Vergangenheit in einem markanten und zunehmend eigendynamischen Rückgang patrizischer und altburgerlicher Familien in den Zunftgremien niederschlug.


Die burgerliche Sache wurde für «neue Familienì»zum Lebensinhalt, zur Mission. Viel stärker als plakative Traditionen prägten aktive Menschen Politik und Geschicke ihrer Zunft. Diese Entwicklung war im Fall Schmiedens bedeutsamer als die politischen Umstürze und Systemwechsel des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. In diesen Konfrontationen hatten die altbernischen Institutionen mit Abwehrstrategien gekontert. Die nun anlaufenden strukturellen Erneuerungsprozesse verliefen in einem Klima gegenseitigen Einvernehmens. So konnten die Beteiligten zur Werte- und Handlungsgemeinschaft zusammenrücken.
 

Während Ñneue Familienì umfassende Integration in den Personenverband anstrebten, erkannten sich altbernische Eliten in elitär kulturellen Anspr¸chen und pragmatischen Denkweisen b¸rgerlicher Neulinge wieder. Auch wenn man sich vorerst nicht verschwägerte, förderte das Zunftleben beidseitiges Interesse. Der Einbindung «neuer Familien» stand nichts im Weg, wenn sie sich den Gegebenheiten anpassten. Das Kooptationsprinzip schloss aus, dass nicht genehme neue Beamte in Zunftgremien hätten gewählt werden können. So kamen in der Zunftverwaltung jene Geschlechter zum Zug, die ihre Loyalität unter Beweis zu stellen bereit waren, oder dies bereits getan hatten. Einmal zusammen im Rat, boten sich alten und neuen Zunftgenossen in der gemeinsamen Verwaltung von Armut und Reichtum altbernischer Provenienz viele Gelegenheiten, um sich bei aller unterschiedlichen Herkunft aneinander zu gewöhnen. Im Tagesgeschäft wurden Weltanschauungen ausgetauscht und in der Erledigung konkreter Aufgaben praktisch bestätigt. In langjähriger Verwaltungsroutine wuchs gegenseitiger Respekt.

 

Neben dem administrativen Betrieb avancierte das gesellige Leben im ausgehenden 19. Jahrhundert zum zentralen Integrationsmittel. Der Sinn der «Kinderfeste» bestand im gegenseitigen Kennenlernen der Stubengenossen. Wenn Schmiedenburger an unzähligen Jubiläumsfeiern im Gleichschritt marschierten, entfaltete zudem die altbernische Heldengeschichte ihre verbindende Wirkung. Als Identifikationsangebot für bürgerliche Leistungseliten ohne genealogische Bez¸ge zum «Alten Bern» betonte die Historiographie jetzt vermehrt ¸berlebte, republikanisch-handwerkliche Ursprünge der burgerlichen Gesellschaften. Im ausgehenden 19. Jahrhundert einigte man sich schliesslich auf ein verbindendes Modell kollektiver Herkunft. Die historischen Feierlichkeiten (Laupen-, Murten- und Gründungsfeiern) veranschaulichen, wie sich aus abweichenden Traditionsbildern, dem altbernischburgerlichen und dem liberal-bürgerlichen, eine einheitliche Deutung gemeinsamer Geschichte herauskristallisierte. In diesem Harmonisierungsprozess kam den Zünften grosse Bedeutung zu. Erstens standen sie aufgrund nachweisbar altbernischer Wurzeln und überlieferter Symbole sinnbildlich für Tradition. Zweitens übernahmen sie bei der Organisation der Heldenfeiern wichtige Funktionen. Drittens belohnten sie wertkonservativ denkende Nichtburger, welche sich um die Inszenierung bernischer Geschichte verdient gemacht hatten, mit der Aufnahme ins Burgerrecht.

 

Gemeinschaftlich verwalten, gesellig verkehren und geschichtlich verbinden, so können burgerliche Einbindungsstrategien umschrieben werden. Nicht auf allen Z¸nften wird man jedoch so nachhaltige Integrationsbestrebungen betrieben haben wie auf Schmieden. Heute kümmern sich fast ausnahmslos Deszendenten k¸rzlich eingeburgerter Familien um die Wahrung altbernischer Tradition. Im Ancien Régime verbanden Sonderrechte und Nutzungsprivilegien die Stubengenossen. Im 19. Jahrhundert trugen ausgeprägte Familienkontinuitäten in Zunftämtern zum Fortbestand der Institution bei. Um das Personengebilde auch im 20. Jahrhundert am Leben zu erhalten, musste ein Gesinnungs- und Funktionswandel vollzogen werden. Aufgrund attraktiver Integrationsangebote wandelte sich die Zunft in ihrer jüngeren Vergangenheit von einer Verwaltungskorporation, welche ihre Existenzgrundlage in feudalen Vorrechten und Standesprivilegien hatte, zu einer Willensgemeinschaft, die von systematischer Einbindung und engagierter Partizipation «neuer Familien» lebte.


Die Dissertation ist veröffentlicht in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 81, Bern 2001.

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