Jahrestagung 2024 des D-A-CH / Fachverband für Public-History-Forschung (phfv)

Autore del rapporto
Michael
Hollogschwandtner
Wien
Citation: Hollogschwandtner Michael: « Jahrestagung 2024 des D-A-CH / Fachverband für Public-History-Forschung (phfv) », infoclio.ch Tagungsberichte, 19.07.2024. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0309>, consulté le 12.10.2024

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Der neu gegründete Fachverband für Public-History-Forschung (phfv), der sich dezidiert und völlig gleich an die Forschungsgemeinschaften in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich wendet, veranstaltete am 14. Juni 2024 an der Universität Wien seine erste Jahrestagung.1 Ein Schwerpunkt der Konferenz lag darauf, insbesondere jungen Forschern und Forscherinnen die Möglichkeit zu bie­ten, ihre postgradualen Qualifikationsarbeiten innerhalb der Disziplin zu präsentieren.

Zu jeder dieser Jahrestagungen gehört auch ein öffentlicher Hauptvortrag eines hervorragenden und angesehenen Kollegen oder einer Kollegin des jeweiligen Standorts. In Wien präsentierte WOLFGANG SCHMALE2 ausgewählte Aspekte seines im Januar 2024 erschienenen Buches #ImmanuelKant. Kosmopolit digital im postkolonialen Zeitalter. Rechtzeitig zu Beginn des diesjähri­gen «Kant-Jahres» setzte Schmale damit neue methodologische Akzente in der Rezeptionsfor­schung zu Immanuel Kant. Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass der Philosoph 300 Jahre nach seiner Geburt zum «digitalen Kosmopoliten» wurde, der in Sozialen Medien weltweit und in vie­len Sprachen präsent ist. Auf der inhaltlichen Ebene der analysierten digitalen Beiträge zeigte Schmale, dass sich postkoloniale Interpretationen Kants im Speziellen sowie der Aufklärung im All­gemeinen in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen konnten. «Kritik an Kant gibt es, aber sie steht selten im Vordergrund», resümierte er. Im Vordergrund stehe vielmehr eine positiv-affirmative Dar­stellung der Aufklärung und einzelner Aufklärer und Aufklärerinnen. Das gilt auch für die Länder des Globalen Südens und damit für die ehemaligen europäischen Kolonien. Kants große digitale Präsenz führte darüber hinaus nicht zu einer Reduktion auf wenige Stereotype, sondern zu einer breiten Auf­fächerung von inhaltlichen Anknüpfungspunkten, die sich von Auseinandersetzungen mit Kants (Haupt-)Werken bis hin zu Tipps für einen besseren Alltag erstrecken. Wenngleich der Philosoph als intellektuelle Autorität dargestellt wird, handelt es sich beim digitalen Kant eher um einen «jederzeit referenzierbaren Begleiter» auf Augenhöhe mit den Nutzern und Nutzerinnen. Schmale resümierte, dass erst eine solche digitale Verfügbarkeit und globale Kompatibilität eines «Kumpels mit seinen Stärken und Schwächen» im 21. Jahrhundert die Voraussetzung dafür bildet, zum Weltbürger zu werden.

Es folgte das von KLARA VALENTINA FRITZ (Wien) moderierte, verbandsinterne disziplinäre «Pro­jektforum», in dem postgraduale wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten präsentiert worden sind. SOPHIE KÜHNLENZ (Erfurt) diskutierte am Beispiel des Technischen Museums Wien (TMW) den Um­gang von Technik-Museen mit Geschlecht als analytischer Kategorie in ihren Sammlungs-, Ausstel­lungs- und Vermittlungspraktiken. Dabei lässt sich für das TMW ein in den 1990er Jahren einsetzen­der Paradigmenwechsel feststellen, so Kühnlenz, in dem ein ingenieurwissenschaftliches Technik­verständnis von einem kulturwissenschaftlichen abgelöst wurde. Dies wiederum beförderte eine Neuinterpretation der Sammlungen und einen Wandel der Sammlungsstrategie und -praxis des Mu­seums. Ausgehend von der lange Zeit vorherrschenden Darstellung von Technik im Kontext von Fort­schritt als Männern zuzuordnendes Phänomen, in dem bestenfalls einzelne Wissenschaftlerinnen als weibliche Ausnahmeerscheinungen und «Zusatz» in diesem männlich konnotierten Feld gewürdigt wurden, geht Kühnlenz der Frage nach, ob und wann das «Marie-Curie-Phänomen» zugunsten einer systematischeren Auseinandersetzung mit Geschlecht und Technik in den Hintergrund getreten ist. Die Wechselwirkungen zwischen Technik und Geschlecht in den Blick zu nehmen biete einerseits die Möglichkeit, grundlegend zu einem differenzierteren Verständnis dazu beizutragen, wie Museen ma­terielle Überreste sammeln und interpretieren, und andererseits eine Gelegenheit, die hinter spezi­fischen Vorstellungen von Technik und Geschlecht stehenden Machtverhältnisse offenzulegen und zur Diskussion zu stellen.

ANDREA LORENZ (Hamburg) diskutierte in ihrem Vortrag insbesondere die juristischen, technischen und forschungspraktischen Herausforderungen bei der Identifizierung und Sammlung von Social-Media-Beiträgen, die als vergangenheitsbezogene Hate Speech zu bewerten sind. Sie gelangte dabei zu dem Schluss, dass bei einer Untersuchung solcher Inhalte (auch) aus geschichtswissenschaftli­cher Perspektive durch die Anwendung von Methoden digitaler Ethnographie die besten Ergebnisse erzielt werden können. Ihrer Untersuchung dieses weit verbreiteten Phänomens anhand der Platt­form TikTok legt sie eine Definition von Hate Speech als performativ-kommunikativem Akt der Her­absetzung von Individuen und Gruppen zugrunde. Anhand mehrerer Beispiele zeigte Lorenz nach­drücklich, wie die Produzenten und Produzentinnen vergangenheitsbezogener Hate Speech zur Ver­breitung ihrer Inhalte zielgruppenspezifische Codes und Chiffren verwenden und sich der Spezifika der Plattform bedienen.

CLAUDIA LUTHIGER (Luzern) widmet ihre Dissertation der Inszenierung des Heldentums der Franzö­sischen Revolution in den deutschsprachigen Ländern, wo sich im Vergleich zu Frankreich zum Teil differierende und konkurrierende Narrationen herausgebildet haben. Am Beispiel der Darstellungen von Maximilien Robespierre und Lazare Hoche, die im deutschsprachigen Raum in der Untersu­chungszeitspanne von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre in vielfältiger Weise öffent­lich inszeniert wurden, diskutierte Luthiger die Variationen solcher Helden- und Anti-Helden-Kon­struktionen, vom militärischen Genie über stark sexualisierte Darstellungen eines tugendhaften Hel­den (wie dies insbesondere für Robespierre festzustellen sei) bis zum sich für das Volk aufopfernden Märtyrer. Die Faszination für die französischen (Anti-)Helden, so Luthiger, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass mit deren Darstellungen Tabus von Gewalt, Tod und Sexualität berührt wurden. Die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit dieser Erzählungen des Heldentums beruhe dabei auf einer Ausblendung der Opfer der von den Helden ausgeübten oder angeordneten Gewalt sowie auf deren Ästhetisierung und Sexualisierung.

Das am weitesten gediehene – und inzwischen an der Universität Basel abgeschlossene – Disserta­tionsprojekt präsentierte MARVIN REES (Basel), der sich mit Entstehung, Inhalt und bildungsrelevan­ten Lerneffekten digitaler Spiele beschäftigt. Diese bedeutenden außerschulischen Quellen der Aus­einandersetzung mit Geschichte untersuchte er anhand des Spiels Discovery Tour: Ancient Greece aus der Reihe Assassin’s Creed der Firma Ubisoft, einem der erfolgreichsten Unternehmen der Bran­che. Ubisoft bewirbt die Produkte dieser Reihe insbesondere mit Verweis auf die (angebliche) histo­rische «Authentizität» ihrer historischen Darstellungen. Rees zeichnete die Entstehung dieses Spiels als einen kooperativen Prozess im Spannungsfeld von wirtschaftlichen, technischen und fachlichen Interessen nach, an dem auch Historiker und Historikerinnen beteiligt gewesen sind. Dar­über hinaus untersuchte er die potenziellen Lerneffekte, die durch digitale Spiele erzielt werden kön­nen, um diese mit jenen Lerneffekten zu vergleichen, die durch bereits im Geschichtsunterricht etablierte Medien erzielt werden können. Dazu wurden die Probanden und Probandinnen (Jugendli­che und junge Erwachsene) in drei randomisierte Gruppen aufgeteilt, denen der Inhalt des Spiels entweder in Form des digitalen Spiels, in Form einer Videoaufzeichnung im «Let’s Play»-Format oder in Form eines bebilderten Transkripts des Spielverlaufs präsentiert wurde. In dieser auch für den Schulunterricht relevanten Untersuchung konnten bedeutsame Lerneffekte des digitalen Spiels nachgewiesen werden.

MARTIN TSCHIGGERL und LEA VON DER HUDE (beide Wien) gaben eine Übersicht der vorläufigen Er­gebnisse des vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierten Forschungsprojekts zu einem in den letzten Jahren in Österreich stark diskutierten Thema, der österreichischen «Trüm­merfrauen». Dieser Mythos von den freiwillig und aufopferungsvoll arbeitenden Frauen, die im Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit die Schäden des Zweiten Weltkriegs beseitigt hätten, wird insbe­sondere durch die rechtsextreme FPÖ reproduziert. Auf ihr Betreiben wurde im Gedenkjahr 2018 in der österreichischen Hauptstadt das «Trümmerfrauen»-Denkmal errichtet. Das Projektteam unter­sucht einerseits, wer in Wien in der Nachkriegszeit diese «Notstandsarbeiten» verrichtete, und andererseits, welche Akteure und Akteurinnen in welchem Kontext den Mythos der «Trümmerfrauen» konstruierten und verbreiteten. Durch eine Auswertung bislang unbearbeiteter Archivbestände konnte nachgezeichnet werden, dass diese Arbeiten primär durch per Gesetz verpflichtete ehema­lige Mitglieder der NSDAP ausgeführt werden mussten – ein Sachverhalt, der in zeitgenössischen Zeitungsberichten insofern Widerhall fand, als dass dafür zumeist der Begriff der «Sühnearbeit» verwendet wurde. Darüber hinaus war, soweit anhand der vorliegenden Quellen rekonstruierbar, die Mehrheit dieser Personen männlich. Der Begriff «Trümmerfrauen» wurde erst Jahrzehnte später, Ende der 1980er Jahre, kreiert. Tschiggerl und von der Hude führten das Aufkommen dieser Debatte primär auf die geschichtspolitischen Veränderungen in Österreich im Kontext des Eingeständnisses österreichischer Verantwortung an den Massenverbrechen des NS-Regimes zurück. Die «Mitverant­wortungs-These» sollte durch die Erzählung von den «Trümmerfrauen» konterkariert werden, bei der es sich um eine Reaktualisierung des österreichischen Opfermythos handelt.

Die Konferenz gab einen Einblick in die thematisch und methodisch vielseitigen Qualifikationsarbei­ten im Bereich der Public-History-Forschung im deutschsprachigen Raum. Die Jahrestagung 2025 des phfv wird an der Universität Heidelberg stattfinden, der Call for Papers voraussichtlich im De­zember auf der Website des Fachverbandes veröffentlicht.


Anmerkungen
1 Dieser Tagungsbericht entstand im Auftrag des Organisationsteams.
2 Der Vortrag von Wolfgang Schmale ist auf dem YouTube-Kanal des Arbeitsbereichs Public History der Universität Wien abrufbar.

Tagungsprogramm

Tagungsleitung/Begrüßung: Marko Demantowsky (Wien)

Öffentlicher Hauptvortrag
Wolfgang Schmale (Wien): #ImmanuelKant. Kosmopolit digital im postkolonialen Zeitalter

Projektforum
Moderation: Klara Fritz (Wien)

Sophie Kühnlenz (Erfurt): Das Marie-Curie-Phänomen revisited – Zur Ko-Konstruktion von Technik und Geschlecht im Museum

Andrea Lorenz (Hamburg): Vergangenheitsbezogene Hate Speech in audiovisuellen sozialen Medien

Pause & Buchpräsentation: Vera Dubina / Andrei Zavadski: Vse v proshlom: teoriya i praktika publichnoi istorii [All Things Past: Theory and Practice of Public History]. Novoe izdatelstvo: Moskau, 2021.

Claudia Luthiger (Luzern): Französische Revolutionshelden im deutschsprachigen Erinnerungsraum – Sakralisierung, Emotionalisierung und Umkämpftheit

Marvin Rees (Basel): Entstehung, Angebot und bildungsrelevante Lerneffekte der «Discovery Tour: Ancient Greece»

Martin Tschiggerl / Lea von der Hude (Wien): Auf der Suche nach der österreichischen Trümmerfrau

Manifestazione
Jahrestagung 2024 des D-A-CH / Fachverband für Public-History-Forschung (phfv)
Organizzato da
Arbeitsbereich Public History der Universität Wien
Data della manifestazione
Luogo
Wien
Report type
Conference