Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich

Cognome dell'autore
Roland
Gerber
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Rainer
Schwinges
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2000/2001
Abstract

Mit diesen geradezu euphorischen Worten kommentiert der Chronist Konrad Justinger die siegreiche Kriegführung der Stadt Bern während des Laupenkrieges von 1339/40. Das Zitat des Chronisten in seiner um 1420 verfassten Stadtchronik ist bezeichnend für das Selbstbewusstsein der führenden bernischen Familien in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Mit der Niederschrift der städtischen und damit auch ihrer eigenen Geschichte in einer wertvollen Handschrift dokumentierten diese ihren historisch legitimierten Herrschaftsanspruch über die von der Stadt erworbene Landschaft. Konrad Justinger nennt in seinem Zitat vor allem drei Ursachen, die es der Berner Bürgerschaft ermöglichten, im 14. und 15. Jahrhundert mit Hilfe Gottes zur dominierenden Landesherrschaft im Aaretal zwischen Brugg und Grimselpass aufzusteigen. Neben dem gesteigerten Wachstum von Bevölkerung und Reichtum (wuchsen an lüten und an gute) macht er auch die friedenssichernde und rechtswahrende Funktion des Stadtgerichts (suchten glimpf und recht) sowie die solidarische Beteiligung der Bürgerschaft am städtischen Regiment und deren Gehorsam gegenüber Schultheiss und Rat (waren einhelle und gehorsam) für den im Vergleich zu anderen spätmittelalterlichen Städten ausserordentlichen Herrschaftsaufbau auf dem Land verantwortlich.

 

Die von Konrad Justinger um 1420 geäusserten, von der bernischen Historiographie teilweise bis heute unreflektiert rezipierten Angaben über den Aufstieg Berns zum grössten mittelalterlichen Stadtstaat nördlich der Alpen müssen jedoch kritisch hinterfragt werden. Die Grundlage der vorliegenden prosopographischen Untersuchung bildet die vollständige elektronische Erfassung der nur als Handschriften vorhandenen Udelbücher (Häuser- und Bürgerverzeichnisse) von 1389 und 1466 sowie der drei von Friedrich Emil Welti edierten Steuerbücher der Jahre 1389, 1448 und 1458 in einer einheitlichen Datenbank. Dieses methodische Vorgehen hat den Vorteil, dass die in den verschiedenen Quellen überlieferten Personenmerkmale wie Geschlecht, Rechtsstatus, Wohnlage, Vermögen, Beruf und Verwandtschaft systematisch einzelnen Stadtbewohnern zugeordnet und in einem Zeitraum von 78 Jahren vergleichend ausgewertet werden können.

 

Der im Zusammenhang mit der Gründung der Genfer Warenmessen um die Mitte des 14. Jahrhunderts einsetzende wirtschaftliche Aufschwung bildet den Ausgangspunkt, um die gesellschaftlichen Verhältnisse der Berner Einwohnerschaft am Ende des Mittelalters zu untersuchen und anhand der sechs ausgewählten Indikatoren Demographie, Rechtsverhältnisse, Sozialtopographie, Vermögensstruktur, Handel und Gewerbe sowie der Herrschaftsbildung auf dem Land in ihrer Entwicklung zu beschreiben. Jeder dieser Indikatoren widerspiegelt in charakteristischer Weise die sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen in Stadt und Landschaft Bern während des 14. und 15. Jahrhunderts. Gleichzeitig beleuchten sie – jedoch aus unterschiedlichen Gesichtspunkten – wichtige Aspekte des kommunalen Lebens. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Bewohnern des städtischen Umlandes zu. Diese werden im Unterschied zu zahlreichen anderen stadtgeschichtlichen Monografien bewusst in die Analyse der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft mit einbezogen. Ziel dieser über die Stadtmauern hinaus blickenden Vorgehensweise ist es, die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen äusserer Herrschaftsbildung und innerer Sozialstruktur der Stadtgemeinde aufzuzeigen, um auf diese Weise die Ursachen der ”bernischen Sonderentwicklung” im Spätmittelalter zu erklären.

 

Die Stadt Bern unterschied sich weder in ihrer Verfassungsstruktur noch in ihrer Verwaltungsorganisation grundsätzlich von anderen mittelgrossen Städten Oberdeutschlands und der heutigen Schweiz. Der Berner Rat beherrschte im 15. Jahrhundert jedoch ein ausgedehntes städtisches Territorium, dessen Bevölkerung die Zahl der innerhalb der Stadtmauern lebenden Bürger und Einwohner um ein Vielfaches übertraf. Das expansive Ausgreifen der Stadt auf die Landschaft hatte dabei eine aussergewöhnlich dichte soziale, ökonomische und politisch-herrschaftliche Verflechtung der Stadt- mit der Landbevölkerung zur Folge. Diese kann als Besonderheit der bernischen Stadtentwicklung während des Spätmittelalters bezeichnet werden. Sowohl die rechtliche Konsolidierung von Stadtgemeinde und Bürgerschaft als auch die Zuwanderung in die Stadt, die topografische Verteilung und künstlerische Ausstattung der wichtigsten kommunalen und kirchlichen Gebäude, die Sozial- und Vermögensstruktur der Stadtbevölkerung sowie der Aufschwung von Handel und Gewerbe standen in Bern während des 14. und 15. Jahrhunderts in direkter Abhängigkeit zur städtischen Herrschaftsbildung auf dem Land. Neben der zunehmenden rechtlichen Einbindung der Landbewohner unter die Zuständigkeit des Stadtgerichts war es vor allem die sukzessive Ausdehnung der kommunalen Steuer- und Wehrhoheit auf die Landschaft, die es Schultheiss und Rat ermöglichten, sich gegenüber den benachbarten Lehensverbänden der Grafen respektive Herzöge von Savoyen, Kiburg und Habsburg durchzusetzen und bis zum Ende des Mittelalters ein grösseres städtisches Territorium zu erwerben.

 

Auch Reichtum und politische Macht standen in Bern während des Spätmittelalters in einer direkten Abhängigkeit zur Herrschaftsbildung auf dem Land. Sowohl für die alteingesessenen Adelsfamilien als auch für die im Waren- und Geldhandel zu Reichtum gelangten Notabelnfamilien bildete der Besitz von Grund- und Gerichtsrechten in der Landschaft die Grundlage, wirtschaftlich abkömmlich zu sein und sich über einen längeren Zeitraum am städtischen Regiment zu beteiligen. Das von Konrad Justinger angesprochene Wachstum von Bevölkerung und Vermögen betraf somit weniger die Stadt als vielmehr die durch die Ausdehnung der städtischen Gebotsgewalt auf die Landschaft verursachte Zunahme ländlicher Kriegsmannschaften und Steuerzahler. Während die Einwohnerschaft Berns zwischen 1389 und 1458 von schätzungsweise 6'000 auf rund 4'500 Bewohner zurückging, nahm die Zahl der steuerpflichtigen Landbewohner zwischen 1393 und 1459 von ungefähr 3'000 auf etwa 32'000 Personen zu. Gleichzeitig vervielfachten sich die von den Vennern erwarteten Steuereinkünfte auf dem Land von 6'200 auf 32'500 Gulden. Keine andere Stadt nördlich der Alpen verfügte im Spätmittelalter über eine ähnlich grosse Zahl wehr- und steuerpflichtiger Untertanen auf dem Land wie Bern.

 

Indem Bürgerschaft und Rat die Zuständigkeit des im 13. Jahrhundert entstandenen Stadtrechts im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts auch auf die Landschaft ausdehnten, entwickelte sich dieses immer mehr zu einem wirksamen Herrschaftsinstrument, um die benachbarten Feudalherren und Klöster der mittelbaren Gebotsgewalt der Stadt zu unterwerfen. Die von Schultheiss und Rat geschaffenen Stadtrechtsbestimmungen gaben der Bürgerschaft die Möglichkeit, die bestehenden Rechtstraditionen auf dem Land auszuhöhlen und durch die vereinheitlichte Rechtsprechung der Stadtgemeinde zu ersetzen. Die von Konrad Justinger angesprochene friedenssichernde und rechtswahrende Funktion des Stadtrechts kam somit nur denjenigen Personen zugute, die sich den Rechtsbestimmungen der Stadtgemeinde unterordneten und beispielsweise als adlige Ausbürger die Oberhoheit des Berner Rates anerkannten. Es gehört zu den wesentlichen Merkmalen der städtischen Herrschaftsbildung auf dem Land, dass Schultheiss und Rat die von der Stadt ausgeübten Herrschaftsrechte über einzelne Personenverbände wie Ausbürger, Freie, Einwohner und Leibeigene bis zum Ende des Mittelalters allmählich aufgaben und durch die Herrschaft über die gesamte Bewohnerschaft in einem rechtlich gegenüber den benachbarten Orten klar begrenzten Untertanengebiet ersetzten.

 

In gleicher Weise wie sich die Herrschaftsbildung auf dem Land auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Stadt auswirkte, spiegelt die kommunale Verwaltungsorganisation auf dem Land die innere Verfassungs- und Sozialstruktur der Berner Bürgerschaft wider. Während es die in Zünften organisierten Notabeln und vermögenden Kaufleute seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verstanden, ihren Einfluss auf die kommunalen Ratsgremien zu verstärken, mussten die stadtsässigen Twingherren (Besitzer ländlicher Gerichtsherrschaften) ihre angestammten Privilegien bis zum Ende des Mittelalters allmählich an die Stadtgemeinde abtreten. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildet der Twingherrenstreit von 1470/71, als die in Bern ansässigen Twingherren während einer Gerichtsverhandlung unter dem Vorsitz des nicht adligen Schultheissen Peter Kistler gezwungen wurden, auf die wichtigsten Herrschaftsrechte in ihren ländlichen Gerichtsherrschaften zu verzichten.

 

Das gleiche gilt für die Besetzung der städtischen Vogteien auf dem Land. Diese wurden von den Mitgliedern des Rates der Zweihundert im 15. Jahrhundert nicht nach ökonomischen, sondern hauptsächlich nach sozialen und politisch-herrschaftlichen Kriterien ausgewählt. Die Attraktivität der von der Stadt verwalteten Landvogteien und Ämter richtete sich deshalb während des Spätmittelalters wie die Mitgliedschaft in Zünften und Rat nach dem Selbstverständnis der führenden bernischen Familien und deren Ansprüchen an Repräsentation, Luxus und Herrschaftsausübung.

 

Gerade der Twingherrenstreit von 1470/71, aber auch die verschiedenen innerstädtischen Unruhen während des 14. Jahrhunderts und die unterschiedlich langen Amtszeiten der Schultheissen machen deutlich, dass die von Konrad Justinger postulierte solidarische Beteiligung der Bürgerschaft am städtischen Regiment und deren Gehorsam gegenüber Schultheiss und Rat den Idealvorstellungen der 1420 regierenden Adels- und Notabelnfamilien entsprach. In Bern kam es während des 14. und 15. Jahrhunderts genauso wie in anderen Städten des Reiches zu langwierigen, teilweise auch gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Teilhabe am städtischen Regiment. Ausgangspunkt dieser langwierigen Austausch- und Ausgleichsbewegungen unter den politisch und wirtschaftlich massgeblichen Familien waren die konkurrierenden Sozialverbände der stadtsässigen Adligen, der wohlhabenden Notabeln und Kaufleute sowie der zünftig organisierten Handwerksmeister.

 

Obwohl es in Bern im Unterschied zu den meisten grösseren Städten Oberdeutschlands und der heutigen Schweiz bis zum Ende des Mittelalters zu keiner in der Stadtverfassung garantierten Beteiligung der Zünfte an den Ratswahlen kam, entwickelten sich diese auch in der Aarestadt zu den sozialen, ökonomischen und politischen Grundeinheiten der Stadtgemeinde. In den vier Vennergesellschaften und der von den adligen Twingherren gegründeten Herrenzunft zum Distelzwang sassen im 15. Jahrhundert zahlreiche vermögende Ratsherren, die die Zunftmitgliedschaft als Ausgangspunkt für eine Ämterlaufbahn innerhalb der Ratsgremien nutzten. Die Führung der Gesellschaften übernahmen dabei wie in Städten mit sogenannter Zunftverfassung einzelne Kleinräte, die jedoch als Besitzer von Gerichtsherrschaften oder als Kaufleute weder in ihrer Lebensweise noch in ihrem Selbstverständnis mehr etwas mit den in der Stadt ansässigen Handwerkern gemein hatten.

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