Die Masterarbeit entstand als Teil eines Projektes zur Aufarbeitung der Geschichte der Bewährungshilfe (Schutzaufsicht) in Bern (vgl. unten). Im Rahmen dieser Forschungen befasst sich die Arbeit mit einem reichen Quellenbestand von 240 Personenakten aus den 1960er Jahren. Diese Personen wurden im Zuge einer bedingten Entlassung aus einer Anstalt oder nach einer bedingt vollzogenen Strafe unter Schutzaufsicht gestellt. Die FürsorgerInnen des Berner Schutzaufsichtsamtes sowie ehrenamtliche HelferInnen (Patrone genannt) sollten fortan einige Jahre auf einen straffreien und normkonformen Lebenswandel der „Schützlinge“ hinwirken und diesen überwachen. Die Arbeit untersucht die Verfahren dieser Schutzaufsicht und die normativen Vorstellungen der zentralen AkteurInnen, die den Schutzaufsichtsalltag im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle ausgestalteten.
Historiographisch ist die Arbeit an einer Schnittstelle zwischen Fürsorgeund Kriminalitätsgeschichte zu verorten. Angestrebt wurde ein methodisch reflektierter Umgang mit Personenakten und „Fällen“. Die theoretische Rahmung bietet der von Michel Foucault betonte Zusammenhang von Macht und Wissen. Einleitend werden Foucaults Konzepte der Disziplinarmacht, der Normalisierung, der Einführung des Delinquenten und der Subjektivierung erörtert und auf die Schutzaufsichtsprozesse appliziert.
In einem zweiten Teil der Arbeit werden die rechtlichen Grundlagen, die Verfahrensweisen und die zentralen AkteurInnen dieses Schutzaufsichtsfeldes vorgestellt. Herausgearbeitet werden sowohl angewendete Kontrollund Zwangsmassnahmen wie auch unterstützende Interventionen der FürsorgerInnen. Es sollen hierbei die Fürsorgekonzeption des Schutzaufsichtsamtes und der Professionalisierungsanspruch der Berner FürsorgerInnen verdeutlicht werden. Ausserdem wird die Position der Berner Schutzaufsicht im Schweizerischen Strafvollzugsdiskurs aufgezeigt.
Im Anschluss richtet sich der Fokus auf die Wissensproduktion innerhalb des Schutzaufsichtsverfahrens. Hierzu werden die Aktenführung und Dokumentationstechniken der Schutzaufsicht beschrieben, die Wissensbeschaffungsverfahren untersucht und der Wissenstransfer zwischen den verschiedenen AkteurInnen sowie amtlichen Stellen analysiert. Dabei zeigt sich, wie die Personen als „Schützlinge“ konstituiert wurden und welche fallspezifische Narrative einer nicht-Bewährung zugrunde lagen, die zum Widerruf der bedingt ausgesprochenen Strafe führten. Schliesslich wird auch der Handlungsspielraum der unter Schutzaufsicht stehenden Menschen beschrieben und dargelegt, welche Anpassungsund Widerstandsstrategien sie verfolgten.
Bei 17 Prozent der untersuchten Fallakten endete die Schutzaufsicht mit einer Rückversetzung in die Anstalt oder dem Widerruf der bedingt ausgesprochenen Strafe. Dabei machte sich jedoch nur rund die Hälfte aller „Schützlinge“ erneut strafbar. Ein Grossteil der Rückversetzungen stützte sich auf Verstösse gegen die bewährungsrelevanten Weisungen oder den Rückversetzungsgrund des „sich der Schutzaufsicht entziehen“. Mit Rückgriff auf Foucaults These, nach der ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Überlagerung des Gesetztes durch die Norm stattfand, kann festgehalten werden, dass durch die Fokussierung auf die Lebensgestaltung der „Schützlinge“ die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen strafrechtlich sanktionierter Tat und „ungeordneter Lebensführung“ bisweilen vollständig verschwand.
Das Fallaktenstudium verdeutlichte, dass die Fürsorgekonzeptionen, welche der Schutzaufsichtsarbeit in den 1960er Jahren zugrunde lagen, stark moralisierend und bevormundend waren. Die Interventionen der FürsorgerInnen griffen erstaunlich weit in die persönliche Freiheit der unter Schutzaufsicht stehenden Personen ein. Stigmatisierend wirkende Massnahmen, wie unangemeldete Hausbesuche und Visiten am Arbeitsplatz unterliefen die integrierenden Absichten des Amtes. Das Schutzaufsichtspersonal vermittelte im Kontakt mit den „Schützlingen“ bürgerliche Ideen von nüchternem Lebenswandel, Sauberkeit, Familienidylle und Arbeitsamkeit. Die Leitbilder dieser Betreuung und die Ausgestaltung der Schutzaufsichtspraxis erinnern an Methoden der philanthropischen Entlassenenfürsorge anfangs des 20. Jahrhunderts. Fürsorgekonzepte, welche in den 1950er Jahren in anderen fürsorgerischen Bereichen Fuss fassten, wie das „Social-Casework“, wurden von den Berner AkteurInnen nicht rezipiert. Dass kontrollierende Betreuungskonzepte bis in die 1960er Jahre Anwendung fanden, so die These, lag sowohl an der Unterstellung des Schutzaufsichtsamtes unter die Polizeidirektion wie auch an der Konstanz der Persönlichkeiten im Dienst des Schutzaufsichtsamtes, welche das Amt teilweise über zwei Jahrzehnte hinweg prägten. Resultate dieser Forschungen werden als Aufsatz in folgender Publikation erscheinen:
Eliane Forster, Die Berner Schutzaufsicht in den 1960er Jahren: Akteurin zwischen Hilfe und Kontrolle, in: „100 Jahre Bewährungshilfe“, Hg. von Brigitte Studer/ Sonja Matter, Bern 2011.
Die Berner Schutzaufsicht als Macht/Wissens-Komplex. Akteure, Verfahren, Narrative in den 1960er Jahren
Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
PD. Dr.
Regula
Ludi
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2009/2010
Abstract