Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Stefan
Rebenich
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2012/2013
Abstract
Die Masterarbeit untersucht in komparatistischer Perspektive die Darstellung der Frühzeit (d.h. die „älteste“ erwähnte Zeit bis zum Einfall der Alemannen) in Schweizer Geschichtsbüchern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei fokussiert sie auf Lehrmittel, deren Gebrauch in den 1870er und 1880er Jahre für die Kantone Bern und Graubünden belegt ist.
Das Quellenmaterial wird zum einen hinsichtlich der Postulierung einer gemeinsamen Herkunft untersucht: Werden die Völker der Frühzeit, allen voran die Helvetier, als Vorfahren der späteren Bevölkerung der Schweiz dargestellt? Dies ist insofern bedeutend, als vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert und insbesondere nach der Bundesstaatsgründung 1848 eine gemeinsame Identität eine grosse Rolle spielte, um eine Einheit zwischen den einzelnen Teilen der Konföderation herzustellen Die Arbeit kann aufzeigen, dass gewisse Parallelen zum Bundestaat von 1848 gezogen werden und insbesondere auch die Wichtigkeit der Einheit betont wird. Andererseits zeigt sich auch, dass weder Höhlenbewohner, Pfahlbauer noch Helvetier als unmittelbare Vorfahren bezeichnet werden. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur; der wichtigste ist wohl, dass keine historische Kontinuität festgestellt werden kann zwischen den Völkern der Frühzeit und der späteren Bevölkerung der Schweiz. Ein anderer Grund ist der, dass die bedeutendste und am ausführlichsten überlieferte Episode der Frühzeit, nämlich der zweite Auszug der Helvetier, davon handelt, wie die Helvetier ihre Heimat verlassen wollten.
Nach der Bundesstaatsgründung 1848 gab es Bemühungen um eine nationale Bildungspolitik, welche aber scheiterten. Der Bildungsföderalismus ging gestärkt aus den Debatten hervor, und die Hoheit über das Schulwesen und damit auch den Inhalt des Unterrichts lag weiterhin bei den Kantonen. In Bezug auf den Geschichtsunterricht stellte sich die Frage nach der Bedeutung der Kantonsgeschichte in den Schulbüchern. Für den Kanton Graubünden kann in Bezug auf die Frühzeit der Nachweis geführt werden, dass sich die entsprechenden Schulbücher, insbesondere das kantonale Lesebuch, stark auf den Kanton und seine Geschichte beziehen. Dies zeigt sich vor allem im grossen Stellenwert, welchen die Rhätier (als frühzeitliches Volk Graubündens) in den betreffenden Schulbüchern einnehmen.
Wenn, wie dargelegt werden kann, weder historisch noch ethnisch Kontinuitätslinien gezogen wurden, so wird dennoch immer wieder die Kontinuität des Siedlungsraumes betont. Auf dieser Grundlage können „indirekte Relationen“, vor allem anti-monarchistische und freiheitliche Traditionen akzentuiert werden. Diese werden Ak- teuren wie Orgetorix zugeschrieben, die im Altertum auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten. Zugleich dienen die Helvetier allerdings als ab- schreckendes Beispiel: Die Unfähigkeit, ein dauerndes Staatswesen zu gründen, wird als Grund für ihre Niederlage gegen die Römer angeführt. Die römische Herrschaft wiederum wird, trotz aller Hinweise auf die zivilisatorischen Errungenschaften dieser Epoche, letztlich negativ bewertet, da es eine Zeit der Fremdherrschaft war. Die Bündner wiederum entdeckten zwar eine besondere Liebe zu den Rhätiern, stellten aber die eigentliche vaterländische Geschichte, die im Mittelalter ihren Anfang nahm, in das Zentrum ihrer Geschichtsdarstellungen.
Durch Mikroanalysen einzelner Geschichtsbücher wird ein höchst differenzierter Umgang mit der Vergangenheit offengelegt; selbst die in der Forschung häufig postulierte Vermittlung republikanischer Tugenden und patriotischer Gefühle ist alles andere als allgegenwärtig. Die Arbeit akzentuiert die Vielschichtigkeit und Vielfalt der Vergangenheitskonstruktion und veranschaulicht die politische und kulturelle Heterogenität selbst innerhalb eines einzigen Kantons – und illustriert damit paradigmatis ch die Schwierigkeit (oder: die Herausforderung), identitätsstiftende Geschichtsnarrative zu schaffen, die gruppenübergreifend die „Nation“ integrierten.