"Das Advisory Committee on the Traffic in Women and Children des Völkerbunds. Internationale Problemwahrnehmung und Wissensproduktion zu Frauen- und Kinderhandel in der Zwischenkriegszeit.

Cognome dell'autore
Edith
Siegenthaler
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Regula
Ludi
Co-direttore
Prof. Brigitte Studer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2014/2015
Abstract


Der Völkerbund erhielt mit der Völkerbundssatzung von 1919 nicht nur den Auftrag, den Weltfrieden auf politischem Weg zu sichern, sondern auch diverse Aufgaben auf sogenannt technischem Gebiet. Dazu gehörte unter anderem die Aufsicht über die Umsetzung der internationalen Abkommen gegen Frauen- und Kinderhandel aus der Vorkriegszeit. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe setzte der Völkerbund ein beratendes Komitee, das Advisory Committee on the Traffic in Women and Children (Advisory Committee), ein. In der Dissertation werden die Wissensproduktion und Problemwahrnehmung dieses Advisory Committee sowie die Frage, welche Ordnungsvorstellungen bei diesen Prozessen von Belang waren, untersucht. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1921, als beschlossen wurde, das Advisory Committee einzusetzen, bis 1939, als die letzte Sitzung des Advisory Committee stattfand.

Da die internationale Staatengemeinschaft zwar kein machtfreier Raum war, vordergründig aber die Gleichheit aller AkteurInnen postulierte, stellt sich die Frage, mittels welcher Ordnungsvorstellungen Hierarchien erstellt wurden. Zur Untersuchung dieser Hierarchisierungen nimmt die Dissertation eine intersektionelle Perspektive ein und knüpft an Überlegungen zur Macht von Michel Foucault an. Drei binäre Differenzen dienen als heuristische Instrumente, um Hierarchisierungen festzumachen, nämlich die Unterscheidung zwischen „weissen“ und „nicht-weissen“ Personen, zwischen männlichen und weiblichen Personen, sowie zwischen Personen mit genügenden finanziellen Ressourcen für ihren Lebensunterhalt, und Personen mit ungenügenden finanziellen Ressourcen. Die Dissertation untersucht in drei Schwerpunkten, inwiefern diese Unterscheidungen beim Erstellen von Hierarchien eine Rolle spielten.

Zur Eröffnung der Untersuchung werden im ersten quellenbasierten Kapitel die Akten und Korrespondenzen zur internationalen Konferenz zur Bekämpfung von Frauenund Kinderhandel analysiert, die 1921 unter der Leitung des Völkerbunds in Genf stattfand, und an welcher beschlossen wurde, das Advisory Committee einzusetzen. Die Begriffsänderung an der Konferenz von „traite des blanches“ – dem Vorkriegsbegriff – zu „traite des femmes et des enfants“ wird als Anlass genommen zu untersuchen, ob sich mit dem Begriff auch die Problemdefinition von Frauen- und Kinderhandel veränderte, da sie auf semantischer Ebene eine Öffnung gegenüber „nicht-weissen“ Personen und gegenüber nichtweiblichen Minderjährigen anzeigt. Diese semantische Öffnung wird im Folgenden bei der Untersuchung von drei Erhebungen, sogenannten Enqueten, die das Advisory Committee initiierte, auf ihre Anwendung bei der Wissensproduktion untersucht.

Das zweite Kapitel rückt die Asienenquete von 1932, welche die Verbreitung von Frauen- und Kinderhandel in Asien untersuchte, ins Zentrum. In dieser Enquete ist eine Fokussierung auf asiatische Betroffene von Frauen- und Kinderhandel festzustellen und in dem Sinne auch eine Ausweitung des Blicks auf „nicht-weisse“ Betroffene. Die Analyse der Korrespondenz des Völkerbundssekretariats im Vorfeld der Datenerhebung sowie der anschliessenden Diskussionen und Reaktionen auf die Asienenquete zeigen zudem die spannungsreichen Aushandlungen in einem von kolonialen Machtverhältnissen beherrschten Raum auf.

Das dritte Kapitel untersucht die Frauenpolizeienquete von 1927, welche danach fragte, wo und zur Erledigung welcher Aufgaben weibliche Polizeibeamte eingesetzt wurden. An dieser Enquete kann die ambivalente Wahrnehmung von Geschlechterrollen im Advisory Committee aufgezeigt werden. Einerseits schrieb die Enquete die bisherigen Unterschiede fort, indem Frauen aufgrund ihres Geschlechts besondere Fähigkeiten als Polizistinnen zur Bekämpfung von Prostitution sowie Frauen- und Kinderhandel zugeschrieben wurden. Andererseits stellte sie mit dem Erwägen des Einsatzes von Polizistinnen das männlich konnotierte staatliche Gewaltmonopol infrage und unterlief damit Vorstellungen von traditionellen Frauenbildern.

Im vierten Kapitel wird die „Enquête sur les Antécédents des prostituées“ von 1938 – eine Enquete zu den Lebensverhältnissen von Frauen, die zu Prostituierten wurden – als Anlass genommen, um die Thematisierung der ökonomischen Lage von Prostituierten in der Enquete und deren Einfluss auf die Erhebung und die Resultate der Enquete aufzugreifen. Mit der Enquete wurden zwar hauptsächlich Auswirkungen der ökonomischen Lage der Betroffenen erhoben, dies hatte aber nur wenig Einfluss auf die Empfehlungen, die auf Basis der Enquete erarbeitet wurden. Vielmehr standen ökonomische Betrachtungsweisen gleichberechtigt neben psychiatrischen und moralischen Betrachtungsweisen von Prostitution und Frauen- und Kinderhandel.

Im fünften Kapitel der Dissertation wird der Blick weg von der internationalen auf die nationale Ebene gerichtet. Um die Rezeption des Advisory Comittee in einem nationalen Kontext zu ergründen, werden die gegenseitigen Einflüsse und die Beziehungen der Schweiz mit dem Advisory Committee des Völkerbunds untersucht. Als Quellengrundlagen dienen dazu einerseits die entsprechenden Bestände des Eidgenössischen Politischen Departements sowie der für internationalen Frauen- und Kinderhandel zuständigen Bundesanwaltschaft im Bundesarchiv und andererseits die Bestände und Publikationen von nationalen und internationalen Freiwilligenorganisationen mit Sitz in der Schweiz, die sich mit der Bekämpfung von Frauen- und Kinderhandel beschäftigten. Dadurch, dass zwei internationale Freiwilligenorganisationen, die ihren Sitz in der Schweiz hatten, einen Beisitz im Advisory Committee hatten, ergibt sich die Möglichkeit, die Funktion von internationalen Freiwilligenorganisationen bei der Verbreitung der Wissensbestände des Völkerbunds zu untersuchen. Das Kapitel erlaubt es, die Arbeit des Advisory Committee jenseits der internationalen Ebene, auf der vorwiegend Aushandlungsprozesse stattfanden, in einem konkreten Fall auf der nationalen Ebene zu untersuchen. Auf dieser nationalen Ebene zeigten sich die konkreten Auswirkungen der Arbeit des Advisory Committee. Somit trägt die Dissertation dazu bei, die internationalen Diskussionen in einem konkreten nationalen Kontext zu verorten.

Die Dissertation untersucht die Wissensproduktion und Wissenszirkulation aus dem Blickwinkel der internationalen Institution des Völkerbunds, der internationalen und nationalen Freiwilligenorganisationen und aus der Perspektive eines einzelnen Nationalstaats. Sie zeigt, dass die Diskussionen auf internationaler Ebene den Akteuren und Akteurinnen diskursive und politische Spielräume eröffneten. So kann nachgewiesen werden, dass einzelne internationale Freiwilligenorganisationen einen entscheidenden Einfluss auf die Diskussionen des Advisory Committee hatten. Weiter zeigt die Dissertation, dass nationale Akteure und Akteurinnen die Enqueten des Völkerbunds aktiv nutzten, um auf nationaler Ebene ihre politischen Ziele zu verfolgen oder aber sich in den Diskursen so zu verorten wussten, dass sie sich internationalen Empfehlungen entziehen konnten. Insgesamt hing der Einfluss des Advisory Committee somit von der Position der Staaten im internationalen Machtgefüge ab, welche sich dadurch ausdrückte, dass die Staaten mehr oder weniger darauf angewiesen waren, die mit dem Völkerbund diskursiv verbundenen Attribute Modernität und Fortschritt für sich in Anspruch zu nehmen. Das Thema Frauen- und Kinderhandel, das einen starken diskursiven Bezug zur sozialen Lage von Frauen aufwies, die in der Zwischenkriegszeit zunehmend zu einem Gradmesser der Zivilisation wurde, eignete sich besonders, um Hierarchisierungen zwischen Staaten vorzunehmen.

External ID
977

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