Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Joachim
Eibach
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2010/2011
Abstract
Seit jeher beflügeln schreckliche Bluttaten die Phantasie einer zwischen morbider Faszination und ostentativem Entsetzen schwankenden Rezi- pientenschar. Gleichzeitig stellen sie aber auch – wie jüngst im Fall des norwegischen Attentäters Anders Breivik – massive Erschütterungen des allgemeinen Normen- und Wertegefüges dar. Das Hereinbrechen des unerklärlich Bösen bedingt denn auch die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung – ein Prozess, dessen Dokumentation sich die vorliegende Masterarbeit verschrieben hat. Als Untersuchungsobjekte dienen dabei zwei mörderische Episoden, die vordergründig nicht unterschiedlicher angelegt sein könnten: Hier der vagabundierende Knecht Anselm Wütschert, der im Jahre 1914 die katholisch-konservative Luzer- ner Provinz in Aufruhr versetzte, indem er auf bestialische Weise die unbescholtene Magd Emilie Furrer umbrachte; dort der „Massenmörder“ Fritz Haarmann, der in der politisch wie sozial aufge- wühlten Weimarer Republik eine Blutspur von ungekannten Ausmassen hinterliess und 24 junge Männer in einem Dachverschlag in der Hannove- raner Altstadt zerstückelte.
Bei der Analyse dieser Fallbeispiele beschränkt sich die Untersuchung nicht nur auf den medialen Raum, sondern will bewusst auch die sogenann- ten „Verbrechensexperten“ – sei es im Gerichts- saal als Richter oder Gerichtspsychiater oder in der kriminologischen Fachdiskussion – zu Wort kommen lassen. Dabei werden die unterschied- lichen Lesarten der Fälle nicht als abgeschottete Versuche der Sinnstiftung, sondern als unterei- nander verflochtene Diskursformationen mit man- nigfaltigen Berührungsstellen und wechselseitiger Beeinflussung aufgefasst. Der komparative Ansatz der Arbeit soll es zudem ermöglichen, Wechsel- wirkungen zwischen den medialen, juristischen und kriminologischen Verbrecherbildern vor dem Hintergrund der so unterschiedlichen gesellschaft- lich-historischen Realitäten in den beiden Ländern herauszuarbeiten.
In beiden Fällen war es die Frage der Zurech- nungsfähigkeit der Täter, an der sich die Gemüter entzündeten. So lieferten die zweifelhaften Er- kenntnisse der humanwissenschaftlich geprägten Kriminologien, die seit dem ausgehenden 19. Jahr- hundert ganz im Geiste des italienischen Krimi- nalanthropologen Cesare Lombroso das biologis- tisch geprägte Bild des „geborenen Verbrechers“ transportierten, den Stoff für erhitzte Diskussionen über die Natur des kriminellen Subjekts. Die Justiz, die sich traditionell der bürgerlichen Wil- lenssemantik verpflichtet sah, war nunmehr mit einem humanwissenschaftlichen Determinismus konfrontiert, der dem „Verbrechermenschen“ die Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Handeln ab- sprach. Bemerkenswert bleibt, in Hannover wie auch in Luzern, dass gerade die vermeintlichen Apologeten der neuen Kriminologien, nämlich die gerichtspsychiatrischen Gutachter, zu den Gralshütern des bürgerlichen Schuldstrafrechts wurden. So organisierten sie ihre Gutachten ganz auf deren juristische Verwertbarkeit hin und waren penibel darauf bedacht, das moralische Verschul- den der Täter – und nicht etwa eine unterliegende krankhafte Veranlagung – in den Vordergrund zu rücken. Freilich wurde dieses harmonische Ver- hältnis zwischen Gutachterei und Justiz in beiden Fällen erst durch die zweckdienliche Auswahl der Sachverständigen ermöglicht.
Ganz im Sinne einer möglichst zielführenden Be- handlung der Akten Wütschert und Haarmann wurde damit das neue Wissen vom Verbrecher aus den Gerichtssälen verbannt und die unlieb- same Debatte in den akademischen Elfenbeinturm verlagert. Tatsächlich aber entfalteten die krimi- nologischen Kommentatoren, zumindest in der Weimarer Republik, aus dieser vermeintlichen Aussenseiterstellung eine beachtliche Strahlkraft. So wurden ihre Einschätzungen des „Verbrecher- menschen“ Haarmann nicht nur innerhalb der Humanwissenschaften diskutiert, sondern fanden in Form von so genannten „Aufklärungsbroschü- ren“ und publikumsgerecht aufbereiteter Artikel den Weg in die Weimarer Massenpresse. Hier wurde der „Schlächter von Hannover“ bald zum
Prototypen eines degenerierten Individuums, dem sich die Gesellschaft nur mit äusserster Härte zur Wehr setzen konnte. Eine Sichtweise, die im kri- sengeschüttelten und von sozialem wie wirtschaft- lichem Elend heimgesuchten Nachkriegsdeutsch- land durchaus verführerisch wirkte.
Während sich damit nicht nur Anklänge, sondern explizite Verweise auf die nationalsozialistische Eugenik in der Weimarer Debatte fanden, kreiste man in der Schweiz in vergleichsweise unschul- diger Manier um die Frage der Willensfreiheit. So diskutierten führende Juristen und Kriminologen zwar durchaus engagiert die Notwendigkeit der Todesstrafe, jedoch ohne dies mit einer Kriegser- klärung an das Verbrechertum zu verbinden. Die- ser Losung schloss sich auch die Mehrheit der ka- tholisch-konservativ dominierten Luzerner Presse an. Und handelte sich mit ihrer Propagan-dakam- pagne für die ultima ratio der Verbrechensbekämp- fung die harsche Kritik der vornehmlich liberal gesinnten, überregional erscheinenden Blätter ein, die sich gegen das als archaische Blutjustiz ge- brandmarkte Ritual zur Wehr setzten. So war es in der Schweiz einer marginalisierten Minderheit überlassen, Anselm Wütschert zu pathologisieren. Für die grosse Mehrheit blieb der „Irre von Krum- bach“, mit beflissentlicher Unterstützung der Lu- zerner Presselandschaft, ein „gesundes“ Monster – das schliesslich als reumütiger Sünder sterben durfte. Ungleich modernistischer führte man in Hannover sein krankes Gegenstück zum Schafott, dem eine ähnliche Metamorphose verwehrt blieb – und setzte damit ein fatales Saatgut in die Mitte der Gesellschaft.