Verantwortung: Hilmar Gernet
Moderation: Hilmar Gernet
Teilnehmende: Andrea H. Schneider-Braunberger / Flavio Eichmann / Christophe von Werdt
Welchen Nutzen hat die Geschichte für Unternehmen und welchen haben die Unternehmen für die Geschichtsforschung? Diesen Fragen widmete sich das Podium zur Unternehmensgeschichte. Es ging um das Austarieren der teils divergierenden und teils konvergierenden Interessen zwischen Unternehmen und Forschenden. Es sind gerade die sprichwörtlichen «Leichen im Keller», die vergessenen Skandale und problematischen Begebenheiten in der Geschichte der Unternehmen, wie HILMAR GERNET (Ger.net GmbH) in seiner Einführung ausführte, die zum Zankapfel zwischen den beiden Parteien werden. Damit war die diskussionsbestimmende Metapher bereits in den ersten Minuten festgelegt: Dieses Bild wurde von den Teilnehmenden im Verlauf des Podiums immer wieder aufgegriffen.
Um die Frage nach dem angemessenen Umgang mit unerschlossenen und potentiell belastenden Beständen zu erörtern, war das Podium passend besetzt. Der berufliche Hintergrund der Podiumsteilnehmenden ist weder rein dem Bereich der Unternehmen und ihrer Archive noch jenem der Forschung zuzuordnen. Die drei promovierten Historiker und Historikerinnen arbeiten an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Bereichen: ANDREA H. SCHNEIDER-BRAUNBERGER ist Geschäftsführerin der in Frankfurt ansässigen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, CHRISTOPHE VON WERDT ist Verwaltungsrat und Mitgründer der Archivsuisse AG – beide Gesellschaften beraten und helfen Unternehmen beim Aufbau von Firmenarchiven und bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Firmengeschichten – und FLAVIO EICHMANN ist Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG), die sich in der Vermittlung betätigt, etwa indem sie freischaffende Historiker und Historikerinnen mit Leitfäden zum Aushandeln von Tarifen und Verträgen für Projekte zur Unternehmensgeschichte versorgt. Zudem stellt die SGG wissenschaftliche Beiräte zusammen, die Projekte begleiten.
Die sogenannten Leichen im Keller sind das grosse Hemmnis in der Beziehung zwischen Unternehmen und Forschenden: Die Unternehmen fürchten sich vor unbekannten und unbequemen Geschichten, dass vergangene Verfehlungen ans Tageslicht kommen oder frühere Geschäftspraktiken sichtbar werden, die nicht mehr den geltenden ethischen Standards entsprechen. Letzten Endes wird die Störung des gegenwärtigen Geschäftes durch PR-Debakel, Boykotte und Reparationsforderungen befürchtet. Für den Schweizer Kontext nannte Gernet aus der jüngsten Vergangenheit die Beispiele des Familienunternehmens Läderach, konkret die Vorwürfe von Misshandlungsfällen gegen den ehemaligen Läderach-Chef und die von ihm mitbegründete Privatschule in Kaltbrunn, sowie der Unternehmensgruppe EMS-Chemie und die von Regula Bochsler 2022 ans Licht gebrachten Napalm-Geschäfte in der Nachkriegszeit.1 In Deutschland stehen die Aktivitäten und Verflechtungen von Unternehmen während der NS-Zeit im Fokus. Wie diese Beispiele zeigen, kommen viele dieser Geschichten früher oder später ans Tageslicht, im Fall der EMS-Chemie sogar ohne Zugang zu den Firmenarchiven. Insgesamt gelte es, die Angst vor dem Unbekannten zu überwinden bzw. den Erwartungsrahmen zu verschieben: Leichen seien grundsätzlich zu erwarten, wie Schneider-Braunberger pointiert formulierte. Als griffigstes Argument gegen die vor allem in der Konzernanwaltschaft verbreitete Ansicht, der beste Schutz gegen Skandale sei das Vernichten von alten Akten, hat sich die Haltung erwiesen, dass die souveräne Bewahrung und Kultivierung der Quellen und der eigenen Geschichte zielführender sind, zumal Vorwürfe von Aussen selten aus der Luft gegriffen seien. Vorrangig müsste aber, so von Werdt ergänzend, die Sensibilität für die intrinsischen Werte eines Unternehmensarchivs und der eigenen Geschichte gestärkt werden. Dies gelte gerade bei Familienunternehmen im Generationenwechsel, die in Erwägung ziehen, alte Akten auszuräumen.
Das Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Konzernen und Geschichtsforschenden bei einer Zusammenarbeit muss allerdings anerkannt werden, in diesem Punkt waren sich alle Podiumsteilnehmende einig. Hier gelte es, die Interessen der Historiker und Historikerinnen gegenüber den Unternehmen möglichst gut zu schützen, etwa die langfristige Zugänglichkeit zu den Archiven oder die Forschungsfreiheit. Eichmann betonte diesbezüglich die Bedeutung eines soliden Vertrages, der die wissenschaftliche Unabhängigkeit garantiert und auch Fragen zur Publikation der Ergebnisse behandelt. Zudem könnten unabhängige Expertenkommissionen und Gremien eingerichtet werden, um bei Konflikten zu schlichten. Schliesslich sei es auch wichtig, zu Beginn eines Projektes genau zu klären, wie sich die Ausgangslage gestaltet und was vom Auftrag zu erwarten ist. Hier stellte Schneider-Braunberger aus eigener Erfahrung fest, dass die Ausführbarkeit einer angemessenen wissenschaftlichen Arbeit von der Instanz des Unternehmens abhängt, die den Impuls dazu gegeben hat – etwa die Marketingabteilung, die Kommunikation oder die strategische Spitze.
Schliesslich wurde auch die Rolle der Politik thematisiert. Hier einigte sich das Podium auf die Parole, dass die auf gemeinsamen Interessen gründende Zusammenarbeit gesucht werden soll, statt auf politischer Ebene die Öffnung von Privatarchiven zu erzwingen. Dabei verwies Eichmann insbesondere auf die Erfahrungen der Bergier-Kommission: Nach der staatlich angeordneten Öffnung der Bankenarchive seien die Archivtüren im Anschluss für die Forschung umso strenger verriegelt worden. Weil gerade die langfristige Öffnung der Archive für die Wissenschaft wichtig ist, könne der politische Druck daher auch kontraproduktiv wirken. Im Unterschied zu dieser in der Schweiz und in Österreich üblichen Herangehensweise hätte Deutschland, wo eine in der Öffentlichkeit viel breiter geteilte Erwartung bezüglich der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit vorherrscht, auf dem nicht-politischen Weg bessere Erfahrungen gemacht. Gerade auch im gegenwärtigen politischen Klima fühlten sich die Unternehmen verpflichtet, als Vorbilder voranzugehen und aus eigenem Antrieb ihre Geschichte zu beleuchten, so Schneider-Braunberger. Die Frage aus dem Plenum, ob der Archivzugang gegenwärtig in Gefahr sei, von politischer Seite her beschnitten zu werden, wurde verneint. Eichmann stellte fest, dass es nicht zuoberst auf der Agenda der Unternehmen stehe, in der Politik auf einen restriktiveren Zugang hinzuwirken. Umgekehrt dürften die gegenwärtig diskutierten Gesetzesentwürfe wie das EU-Lieferkettengesetz mit seinen Komponenten zur Verbesserung der Dokumentation und Transparenz von unternehmerischen Aktivitäten nicht zu optimistisch bewertet werden. Der Vision, dass dadurch ein neues goldenes Zeitalter eingeläutet wird und sich neue «Erntefelder» für die historische Forschung auftun, wurde eher Skepsis entgegengebracht.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass zwischen dem Extrem der Gegnerschaft und jenem des Heilsversprechens eine gute und fruchtbare Partnerschaft möglich scheint, die auf gegenseitigem Verständnis für die jeweiligen Interessen und einer Absicherung der eigenen Position gründet. Die Unternehmensgeschichte soll daher als Forschungsfeld weitergeführt werden. Dass als Leitmotiv des Podiums die Vermittlung durchschien, kann aufgrund der Zusammensetzung der Runde nicht überraschen – womöglich hätte die Diskussion zwischen Forschenden und Repräsentantinnen bzw. Repräsentanten der Unternehmen oder Firmenarchive anders ausgesehen. Dementsprechend kamen auch die kritischeren Fragen zu den politischen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten aus dem Publikum. Letztlich haben die Teilnehmenden des Podiums mit ihrer vermittelnden Übersicht über beide Lager den Geschichtstagen jedoch definitiv eine einzigartige Perspektive aufzeigen können.
Anmerkungen
1 Bochsler, Regula: Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald, Zürich 2022.