Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus – Ein Erinnerungsort in der Stadt Bern

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Reihe über das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in der Schweiz, die im Rahmen der infoclio.ch-Tagung 2024 «Zweiter Weltkrieg. Erinnerung im Wandel» lanciert wurde. Die Reihe stellt verschiedene aktuelle Projekte vor, weist auf online zugängliche Ressourcen hin und bietet Einblick in historische Betrachtungen zum Thema.


Beitrag von Gregor Spuhler (Archiv für Zeitgeschichte der ETHZ) und Fabienne Meyer (Universität Freiburg)


2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Standen in Europa in den ersten Nachkriegsjahrzehnten der von Deutschland begonnene Krieg und seine Zerstörungen im Zentrum der Erinnerung, so sind seit den 1980er Jahren zunehmend der verbrecherische Charakter des nationalsozialistischen Regimes und seine Opfer ins historische Bewusstsein gerückt. Auch in der Schweiz wandelte sich in den letzten Jahrzehnten das historische Bewusstsein. Nachdem sie sich lange als verschonte «Insel» in einem kriegsversehrten Europa verstanden hatte, rückte die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (1996-2002) die Verstrickungen der Schweiz in die nationalsozialistische Raub- und Mordpolitik ins Zentrum ihrer Untersuchungen und zeichnete ein differenziertes Bild schweizerischer Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten. Mit dem Beitritt der Schweiz zur International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) im Jahr 2004 verpflichtete sie sich, «die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und jüngeren Generationen die Gräuel des Holocaust zur Kenntnis zu bringen, damit junge Menschen ein Bewusstsein entwickeln können, zu was Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung führen können.»1 Erst in jüngerer Zeit rückten auch die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus ins Zentrum des öffentlichen Interesses.2

Während heute in zahlreichen Staaten von der öffentlichen Hand geförderte Erinnerungsorte, Denkmäler und Museen existieren, die sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzen und der Opfer gedenken, gibt es in der Schweiz bisher keinen entsprechenden offiziellen nationalen Gedenkort. Das Gedenken im Allgemeinen und im Spezifischen das Gedenken an die Shoah war bisher die Sache von privaten Institutionen und Initiativen. Dabei sind in der Schweiz bisher über 60 zumeist niederschwellige Erinnerungsorte entstanden.3 Als Reaktion auf eine zivilgesellschaftliche Initiative und auf zwei einstimmig angenommene Motionen des Parlaments sprach sich der Bundesrat im Frühjahr 2023 für die Schaffung eines Erinnerungsorts für die Opfer des Nationalsozialismus in Bern aus. Ausgehend von einem Projekt für einen grenzüberschreitenden Vermittlungsort in St. Gallen zum Thema Flucht soll zudem ein nationales Netzwerk von historischen Gedenk- und Erinnerungsorten entstehen. Der Bundesrat will, dass damit «die Erinnerung an die Folgen des Nationalsozialismus, namentlich an den Holocaust und das Schicksal der sechs Millionen getöteten Jüdinnen und Juden und aller anderen Opfer des nationalsozialistischen Regimes» wachgehalten wird. Mit der Realisierung des Erinnerungsortes will der Bund zusammen mit der Stadt Bern zudem «ein Zeichen gegen Völkermord, Antisemitismus und Rassismus und für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und individuelle Grundrechte» setzen.4

Die Ausgestaltung des Erinnerungsortes in der Stadt Bern wird 2025 Aufgabe eines Kunst- und Architekturwettbewerbs sein, dessen Programm zurzeit erarbeitet wird. Als Ort des Gedenkens soll er unterschiedliche Menschengruppen ins Zentrum stellen: Schweizerinnen und Schweizer, die vom nationalsozialistischen Regime und seinen Kollaborateuren verfolgt, entrechtet und ermordet wurden; Jüdinnen und Juden sowie alle anderen vom NS-Regime Verfolgten, denen die Schweizer Behörden die Rettung verweigerten; Schweizerinnen und Schweizer, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten oder den Verfolgten Schutz und Hilfe boten; sowie alle Opfer des Holocausts, des Völkermords an den Roma und der Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Helferinnen und Helfer.

Als Ort der Vermittlung muss hier zudem auch historisches Wissen zur Verfügung gestellt und abgerufen werden können, wobei zwei inhaltliche Dimensionen im Vordergrund stehen sollen: (1) die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und (2) die Verantwortung und Handlungsspielräume schweizerischer Akteurinnen und Akteure.

(1) Zu den Kernelementen der NS-Ideologie wie auch des Faschismus generell gehörten extremer Nationalismus und Rassismus, die das eigene «Volk» als stark, gesund und – gegenüber anderen «Völkern» – höherwertig propagierten. Als angeblich minderwertig, nicht-zugehörig oder fremd wurden bestimmte Gruppen – Jüdinnen und Juden, Kranke und Menschen mit Behinderungen, Roma, Homosexuelle, politische Oppositionelle, «Slawen» u.a. – zuerst propagandistisch diffamiert und ausgegrenzt, anschliessend rechtlich diskriminiert und schliesslich verfolgt und ermordet. Diese Politik beruhte auf Vorurteilen und Diskriminierungen, die auch ausserhalb Deutschlands, einschliesslich der Schweiz, weit verbreitet waren, und sie wurde von den Nationalsozialisten im Schatten des Kriegs und der damit verbundenen Entgrenzung und Gewalteskalation zur Vernichtungspolitik radikalisiert. Neben den wichtigsten Fakten (z.B. Jahreszahlen, Opfergruppen und -zahlen) sollen am Erinnerungsort in Bern sowie mittels weiterführender digitaler Angebote der Charakter und die verheerenden Folgen der auf Diskriminierung und Ausgrenzung beruhenden NS-Ideologie vermittelt werden, die die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen sowie die Menschenwürde negierte.

(2) Mit der Bundesstadt Bern als Standort des Erinnerungsortes bietet es sich darüber hinaus an, auf die Herausforderungen einzugehen, die die Verfolgungspolitik für die Schweiz darstellte, und zu reflektieren, wie die mit unterschiedlichen Kompetenzen, Handlungsspielräumen und Verantwortlichkeiten ausgestatteten Schweizer Akteurinnen und Akteure darauf reagierten: In Bern wurden die politischen Entscheidungen auf oberster Stufe gefällt. Daneben gab es auf allen Ebenen Akteurinnen und Akteure, die ihre Handlungsspielräume auf unterschiedliche Weise nutzten – z.B. in der Wirtschaft, der Diplomatie oder der Kultur. Manche der Entscheidungen hatten dramatische Auswirkungen auf Menschenleben und waren zugleich geprägt von Ambivalenzen und Diskrepanzen. Ausgehend von Fallbeispielen, die die Opfer und deren Verfolgungsgeschichten ins Zentrum stellen, können die teils widersprüchlichen Interessen, Einstellungen und Werte, die als Grundlagen für Entscheidungen und Handlungen von Behörden und anderen Akteuren herangezogen wurden, vor Ort aufgezeigt werden. Denn gerade in der Auseinandersetzung mit einzelnen Menschen und ihren unterschiedlichen Lebenslagen können Zielkonflikte und Dilemmata verdeutlicht und Handlungsspielräume sowie die Frage nach Zivilcourage zur Diskussion gestellt werden. Damit kann den Besuchenden, gerade jungen Menschen, ein attraktiver Zugang zur Vergangenheit und damit einhergehend auch zu aktuellen Herausforderungen geboten werden.

Ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus ist lange fällig und bettet sich als Baustein in die internationale Erinnerungskultur ein. Die von der Schweiz eingegangene Verpflichtung, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und seine Gräuel den jüngeren Generationen zur Kenntnis zu bringen, findet darin eine sichtbare Verortung. Ziel des Erinnerungsortes ist es, an die Opfer zu erinnern, sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und darin die Handlungsspielräume zu erkennen. Ganz konkret geht es dabei auch darum aufzuzeigen, dass der Schweizer Staat in jener Zeit in vielen Fällen den Schutzsuchenden keine sichere Herberge bot – aber auch darum, den Mut derjenigen Personen zu würdigen, die sich für Flüchtlinge eingesetzt oder sich dem nationalsozialistischen System entgegengestellt haben. Die Hoffnung ist dabei, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem reflektierten Umgang mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft beiträgt.


Anmerkungen

1 Medienmitteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zur Übergabe des Vorsitzes der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) an Italien, 6.3.2018. Vgl. <https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-70013.html>, (Stand: 7.10.2024).

2 Vgl. bspw. das Forschungsprojekt «Zwischen Opferdiplomatie und Entschädigungsforderungen» an der Universität Fribourg unter der Leitung von Prof. Dr. Christina Späti. Vgl. auch Spörri, Balz; Staubli, René; Tuchschmid, Benno: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs, Zürich 2019.

3 Vgl. Meyer, Fabienne: Monumentales Gedächtnis. Shoah-Denkmäler in der Schweiz, in: Azaryahu, Maoz; Gehring, Ulrike; Meyer, Fabienne; Picard, Jacques Picard; Späti, Christina (Hg.): Erzählweisen des Sagbaren und Unsagbaren. Formen des Holocaust-Gedenkens in schweizerischen und transnationalen Perspektiven, Köln 2021, S. 161-190.

4 Vgl. Medienmitteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vom 26.04.2023: <https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-94582.html>, (Stand: 7.10.2024).