Praktiken der (Un-)Sichtbarmachung von Menschen im Transit im Zuge der Neuordnung Europas nach 1945

Autor / Autorin des Berichts
Lea
Sidler
Universität Bern
Zitierweise: Sidler, Lea: Praktiken der (Un-)Sichtbarmachung von Menschen im Transit im Zuge der Neuordnung Europas nach 1945, infoclio.ch Tagungsberichte, 01.08.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0348>, Stand: 02.08.2025

Verantwortung: Jonathan Pärli

Referierende: Christina Wirth / Ramon Wiederkehr / Lukas Hartmann

 

PDF-Version des Berichts

 

Das Panel beleuchtete die internationale Zusammenarbeit im Umgang mit Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Displaced Persons galten seit 1944 Zivilpersonen, die sich infolge des Krieges ausserhalb ihres eigenen Staates befanden, die im Anschluss zwar zurückkehren oder eine neue Heimat finden konnten, hierfür aber auf Hilfestellungen angewiesen waren. Die Referierenden des Panels befassten sich mit der Frage der unterschiedlichen Kategorisierungen von Displaced Per­sons, der von ihnen zu erfüllenden Kriterien für den Asylanspruch, der Temporalität von Asyl und der konkreten Praxis im Umgang mit minderjährigen Displaced Persons, mit Fokus auf die Schweiz und Deutschland.

 

Ausgehend von ihrer Forschung zu Differenzkategorien stellte CHRISTINA WIRTH (Mainz) den histo­risch aussergewöhnlichen Fall von Kaunitz vor, wo in der Region Nordrhein-Westfalen im April 1945 britische Truppen auf 300 jüdische Frauen trafen, die sich auf dem Todesmarsch befanden. Die bri­tischen Soldaten brachten die Frauen im nahegelegenen Dorf Kaunitz unter, das im Mai 1945 Teil des britischen Besatzungsgebiet wurde, und vertrieben die ursprünglich ansässigen Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfes. Bemerkenswert sei hierbei gemäss Wirth, dass sich die britischen Truppen entgegen der Weisung, Displaced Persons in ein Unterbringungslager einzuweisen, dafür entschie­den hätten, den Frauen eine neue Heimat zu schaffen.

Wirth folgerte aus dem Vorgehen der Soldaten, dass diese die Situation der jüdischen Frauen wegen ihres Jüdischseins als gesondert betrachteten, und sie nicht ausschliesslich als Displaced Persons definiert hätten. Die Neubeurteilung der Kategorie ‹Jüdischsein› nach dem Holocaust habe sich je­doch nicht nur am Verhalten der Soldaten gezeigt. In Kaunitz hätten deutsche Familien, die zum Teil aus ihren Häusern vertrieben worden waren, auf andere Diffamierungsformen zurückgegriffen, um die jüdischen Familien im Dorf diskursiv anzugreifen. Da ein Angriff auf deren Jüdischsein nicht mehr als legitim erachtet worden sei, seien die Frauen folglich strategisch als ‹Fremde› und ‹Aus­länderinnen› bezeichnet worden. Die Betonung der Differenz ‹Jüdischsein› sei nach der Schoah auch durch die Jüdinnen und Juden selbst erfolgt, um darauf gründend eigene Rechte einzuklagen.

 

RAMON WIEDERKEHR (Neuenburg) befasste sich in seinem Beitrag mit der Schweizer Verflechtung mit dem internationalen Flüchtlingsregime in der Nachkriegszeit. Dabei stellte Wiederkehr eingangs fest, dass diese Perspektive historisch unterbeleuchtet sei; die Schweizer Flüchtlingspolitik stosse zwar vermehrt auf historisches Interesse, der Untersuchungszeitraum (1945–1956) sowie der Fokus auf die innenpolitische Praxis würden dabei aber vernachlässigt.

Die Haltung der Schweiz zum Umgang mit Displaced Persons teilte Wiederkehr in vier Phasen ein: Von 1943 bis 1945 habe, ausgehend von einer noch nie dagewesenen Zahl an Displaced Persons im europäischen Raum, eine erste umfassende internationale Zusammenarbeit anlässlich der im glei­chen Jahr gegründeten United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) stattgefun­den. Hierbei sei die Schweiz massgeblich beteiligt gewesen, so hätten sich mehrere Forschungs­gruppen mit möglichen Zukunftsszenarien befasst. Die Bundesbehörden hätten sich in der interna­tionalen Beteiligung jedoch zurückhaltend verhalten und sich mit dem Aufbau eigener Organisatio­nen wie der Schweizer Spende befasst, die das Verhalten der Schweiz innen- wie aussenpolitisch legitimieren sollte. In einer zweiten Phase gewann die Schweiz ab 1945 als Knotenpunkt und Transi­tort von Displaced Persons an Bedeutung. Dabei war die Schweiz bestrebt, die Rückkehr geflüchteter Personen in ihr Herkunftsland zu ermöglichen. Schweizer Organisationen wie das Schweizerische Rote Kreuz und die Schweizer Spende engagierten sich durch die Verteilung von Hilfsgütern inter­national für Displaced Persons. Die dritte Phase von 1946 bis 1951 bezeichnete Wiederkehr als «Phase der Weiterwanderung». Die Schweiz fungierte dabei als Aus- und Einreiseland. In Genf wurden über 11 ‘000 Fälle daraufhin geprüft, ob die betreffenden Personen Anspruch auf Hilfe der International Refugee Organisation (IRO) hatten. In der vierten, letzten Phase von 1950 bis 1952 lag der Fokus schliesslich auf jenen Displaced Persons, die nicht zurückgeführt oder umgesiedelt werden konnten. Die IRO versuchte europäische Nationen in einen internationalen Aufruf dazu zu bewegen, nicht rückführbare Displaced Persons langfristig aufzunehmen. Diesem Aufruf sei die Schweiz oberfläch­lich gefolgt, indem sie ihr Verpflichtungsgefühl gegen aussen hin betonte. Tatsächlich seien aber nur 250 Personen aufgenommen worden. Deren Aufnahme unterlag Kriterien, die etwa die psychi­sche und physische Verfassung der Displaced Persons betrafen. Wiederkehr konstatierte hierbei eine Diskrepanz der von der Schweiz nach aussen hin vermittelten Solidarität gegenüber ihrem rest­riktiven Umgang mit Displaced Persons.

 

Der Beitrag von LUKAS HARTMANN (Basel) widmete sich der privaten Kinderhilfe in der Schweiz ab 1945. Als Ausgangspunkt zeigte Hartmann Ausschnitte aus einer Broschüre, die Berichte aus Kinder­dörfern des UNICEF mit Fotoreportagen von kriegsversehrten Kindern ergänzten und so Kinder als besonders schutzbedürftig strategisch inszenierten. Der Referent sah in dieser Inszenierung der U­NESCO den Versuch, humanitäre Hilfe zu organisieren und die eigene Arbeit zu legitimieren.

Am Beispiel des Kinderdorfs Pestalozzi veranschaulichte Hartmann die Praxis der privaten Kinder­hilfe in der Schweiz. Das Kinderdorf wurde 1946 gegründet und sollte Kindern aus verschiedenen kriegsversehrten Ländern Schutz bieten. Aufgenommen wurden Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren, als Ausschlusskriterien galten neben dem Alter übertragbare Krankheiten, eine tiefe Bil­dungsfähigkeit sowie psychische und physische Beeinträchtigungen. Obwohl Familientrennungen konzeptuell nicht vorgesehen waren, hätten diese mit der Zeit vermehrt stattgefunden, wie Zeug­nisse von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen belegen: Zunächst verunmöglichte das Kinderdorf insbe­sondere im globalen Kontext die Kontaktaufnahme der Kinder mit ihren Familien, ausserdem wurde die Trennung von Kindern mit Alleinerziehenden zunehmend in Kauf genommen. Hartmann stellte fest, dass die Trennung von Kindern mit ihren Angehörigen schliesslich einen systematischen Cha­rakter erhalten hätte. Bis 1970 galt die Rückreise als Aufnahmebedingung, wobei frühzeitige Rück­weisungen im Kinderdorf als disziplinarische Massnahmen angedroht und ausgeführt worden seien. Weitere Fälle von psychischer, aber auch physischer und sexualisierter Gewalt im Kinderdorf seien belegt, die im Widerspruch zum eigentlich antiautoritären Ansatz des Kinderdorfs gestanden hätten und systematisch verdeckt worden seien. Zusammenfassend stellte Hartmann in der Praxis der Kin­derhilfe ein Spannungsfeld zwischen der Verbesserung der Lebenslage von kriegsversehrten Kin­dern und dem Entreissen der Kinder aus ihrem Umfeld sowie erneuten Gewalterfahrungen durch die Kinderhilfe fest.

 

In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob es auch Displaced Persons gegeben habe, denen der Schutzstatus abgesprochen worden sei. Sowohl Wirth als auch Wiederkehr betonten daraufhin, in ihrer Quellenrecherche auf solche Fälle gestossen zu sein. Es habe sich dabei um ehemalige An­gehörige der Wehrmacht, der Roten Armee, aber auch um NS-Kollaborateurinnen und Kollaborateure gehandelt. Abschliessend wurde betont, dass in der Nachkriegszeit der Umgang mit Displaced Per­sons in der Schweiz wie auch die Praxis der internationalen Zusammenarbeit, namentlich der UNRRA und der IRO, auf Temporalität ausgelegt gewesen sei. Die Inszenierung der Schweiz als humanitäres Land könne daher zwar auf ihr aussenpolitisches Engagement bezogen werden, stehe jedoch in ei­nem Widerspruch mit dem innenpolitischen Umgang mit Displaced Persons in der Nachkriegszeit. Dies zeigten sowohl der Beitrag von Ramon Wiederkehr als auch von Lukas Hartmann, während Christina Wirth demgegenüber einen Sonderfall beleuchtete, bei dem Displaced Persons aufgrund einer Differenzkategorie ein langfristiges Zuhause in Deutschland verfügbar gemacht wurde – was anderen Displaced Persons nicht ermöglicht worden war.

 

Panelübersicht:

Christina Wirth: (Un-)sichtbarmachung durch Kategorisierung: Differenzierung der Displaced Persons

Ramon Wiederkehr: Politisches Kalkül und humanitäres Engagement der Schweiz im internationalen Flüchtlingsregime 1943-1952

Lukas Hartmann: Ästhetisierte Schutzbedürftigkeit und unerkanntes Leid. Unsichtbarmachung kindlicher Gewalterfahrung in der privaten Kinderhilfe 1945

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Veranstaltung
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Veranstaltungsdatum
-
Ort
Luzern
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference