Eine Szene machen: Mit Jacques Rancière für eine neue Geschichte des Politischen

Autor / Autorin des Berichts
Lea
Sidler
Universität Bern
Zitierweise: Sidler, Lea: Eine Szene machen: Mit Jacques Rancière für eine neue Geschichte des Politischen, infoclio.ch Tagungsberichte, 04.08.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0339>, Stand: 08.08.2025

Verantwortung: Jonathan Pärli / Jan-Friedrich Missfelder

Referierende: Laure Piguet / Milo Probst

Kommentar: Ruth Sonderegger

 

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JONATHAN PÄRLI (Basel) und JAN-FRIEDRICH MISSFELDER (Basel) beabsichtigten mit der Eröffnung des Panels eine Bühne für Jacques Rancière zu schaffen, der bisher in der Geschichtswissenschaft wenig rezipiert worden sei. Dabei biete der französische Philosoph und Historiograf eine fruchtbare Analyse des Politischen, so Jan-Friedrich Missfelder. Anhand zweier Anwendungsbeispiele unterstri­chen die beiden Panelverantwortlichen das Potential von Rancières Theorien. Laut Missfelder lasse sich die Theorie zur Verteilung des Wahrnehmbaren etwa gut auf vormoderne Gesellschaften an­wenden, da es sich hierbei um eine besonders sensorische Gesellschaft gehandelt habe; die Frage nach der Hör- und Wahrnehmbarkeit von sozialen Gruppen sei daher besonders zielführend. Jo­nathan Pärli wiederum wandte Rancières Theorie der ‹Szene› und der ‹geteilten Bühne› auf die heu­tige Schweiz an. Um sich als unterdrückte Gruppe behaupten zu können, müsse nach Rancière erst­mals eine gemeinsame Bühne mit der machthabenden Gesellschaftsgruppe etabliert werden, um dort wiederum ‹eine Szene zu machen›, also ein politisches Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Da­bei könne man sich fragen, inwiefern es etwa für eine migrantische ‹andere› Schweiz überhaupt eine ‹gemeinsame Bühne› mit der übrigen Schweiz gebe, und was dies für den politischen Kampf der ‹anderen› Schweiz bedeute.

Rancières formulierte Methode der Bühne als politisches Instrument untersuchte LAURE PIGUET (Fribourg) anhand der Arbeiterkämpfe der Seidenweber in Lyon der 1780er und der 1830er Jahre. Da­für legte Piguet zunächst Rancières Definition des Politischen dar: Es bedarf einer Entfernung des Subjekts von der ihm zugewiesenen Position innerhalb der sozialen Ordnung, das Subjekt muss schliesslich als sprechendes Wesen wahrgenommen werden. Laut Rancières Schrift La parole ouvri­ère, sei dies den Arbeitern von Lyon erst nach der Julirevolution von 1830 gelungen, davor seien sie keine politischen Subjekte gewesen. Dem widerspricht Piguet: Anhand von Archivdokumenten zeigte sie auf, dass die Arbeiter bereits in den 1780er Jahren eine unkonventionelle Methode gewählt hatten, um auf ihre Absichten und ihre Lage aufmerksam zu machen und damit die soziale Ordnung zu durchbrechen. Mit der Erstellung von Arbeiterbudgets, die unter anderem den Kauf von Hüten, Küchenmaterial und Genussmittel wie Tabak beinhalteten, hätten die Arbeiter ein Bewusstsein für ihre soziale Lage geschaffen und zugleich einen Konsum für sich in Anspruch genommen, der ihnen aufgrund ihrer sozialen Position nicht zugestanden worden sei. Während die Arbeiter die Budgets in den 1780er Jahren an die kommunale Verwaltung von Lyon übermittelten, machten sie die Budgets, die sie in den 1830er Jahren erneut erstellten, der Öffentlichkeit zugänglich. Die Arbeiter von Lyon hätten sich mit dieser Methode durchaus eine Bühne geschaffen und zugleich ein politisches Instru­ment gefunden, dass sie über die Jahre hinweg mehrmals verwendeten, um sich als Gruppe Gehör zu verschaffen. Die Reaktionen, insbesondere der 1780er Jahren seien jedoch nicht stark ausgefal­len, ihre Anliegen von den kommunalen Behörden nicht ernst genommen worden. Es stelle sich also die Frage, inwiefern die Interventionen der Arbeiter eine geteilte Bühne des Politischen ermöglichten.

Auch MILO PROBST (Berlin) warf einen kritischen Blick auf Rancières Theorie. Er verglich Rancières Definition von Gleichheit und Subjektivierung mit jener der italienischen Feministinnen Volta Femi­nile. Zunächst stellte Probst fest, dass Rancière die feministische Bewegung in seinen politischen Theorien nicht rezipiert habe, weshalb Probst in diesem Beitrag ‹blinde Flecken› in der politischen Theorie des Philosophen aufzeigen wolle. Die Volta Feminile hätten den Begriff der Geschlechterdif­ferenz erstmals eingeführt, wobei sie sich nicht auf biologische oder soziale Argumente, sondern auf eine Desidentifikation mit vorhandenen sozialen Rollen bezogen. Im Gegensatz zu Rancière hätten die italienischen Feministinnen jedoch nicht eine daraus resultierende Gleichheit von allen mit allen einklagen wollen, sondern die Gegenüberstellung von Gleichheit und Differenz, wie sie auch Rancière formulierte, als solches abgelehnt. Denn: Gleichheit sei als juristisches Prinzip zu verstehen, Diffe­renz wiederum als existenzielles, folglich würden sich die beiden Phänomene nicht auf derselben Ebene bewegen, zitierte Probst die Feministin Carla Lonzi. Dass die italienischen Feministinnen sich verweigert hätten auf eine Gleichheit mit allen zu pochen, habe auch damit zu tun gehabt, dass sie sich ausserhalb von einem männlichen Bezugssystem hätten bewegen wollen. Probst argumentierte, dass es sich hierbei um einen systemtheoretischen Ansatz handle, der es den Frauen ermöglicht habe, ein eigenes Bedeutungssystem zu etablieren. Das habe sich schliesslich darin geäussert, dass sie feministische Subjektwerdung nur in Bezug zu anderen Frauen als möglich dachten. «Wir spre­chen nur mit Frauen» lautete denn auch die Haltung der Volta Feminilie. Hierin sah Probst schliess­lich eine Schwachstelle in Rancières Theorie, denn die Frauen subjektivierten sich gerade aus­serhalb des Bezugssystems der Machthabenden und verweigerten so eine ‹geteilte Bühne›.

RUTH SONDEREGGER (Uni) lobte im Kommentar die beiden Beitrage als sehr produktiven Umgang mit Rancières Theorie, da sie über deren reine Anwendung hinausgegangen seien. Den Einwand Pi­guets, dass die Seidenweber bereits vor 1830 als politische Gruppe die Bühne betreten hätten, beur­teilte Sonderegger als überzeugend. Die Tatsache, dass sie dabei aber nicht unbedingt auf Gehör gestossen seien, fand sie deshalb interessant, weil Piguet damit einen Zwischenraum beleuchte. So finde einerseits eine Subjektwerdung statt, die aber zugleich von den Machthabenden ignoriert werde. Es gelte, so Sonderegger, diese «halben Bühnen» genauer zu untersuchen. Auch Probst pflichtete sie bei, dass die feministische Bewegung zu wenig respektive keine Beachtung in Ranci­ères Theorie fände. Dennoch hatte Sonderegger einen Einwand zu Probsts Konklusion, dass die Fe­ministinnen ausserhalb von einem mit den Männern geteilten Bezugssystem handelten und daher auf eine ‹gemeinsame Bühne› verzichtet hätten. Schliesslich erfordere gerade die Verweigerung zum Austausch und die Forderung nach eigenen exklusiven Räumen eine Reaktion der Machthaben­den, in diesem Fall der Männer.

Das doch sehr theoriebasierte Panel beleuchtete Rancières Theorien von unterschiedlicher Seite. Sowohl argumentativ als auch mit historischen Fallbeispielen, wurde Rancières Definition des Poli­tischen auf den Prüfstand gestellt. Zugleich eröffnete das Panel einen Diskurs über die in der Ge­schichtswissenschaft (noch) marginalisierte Politiktheorie Rancières.

 

 

Panelübersicht:

Laure Piguet: Parler sans être entendu. Tentative de mise en scène des budgets des maitres ouvrier de la soie lyonnais.

Milo Probst: Auf Rancière spucken? Wie italienische Feministinnen die Methode der Gleichheit problematisieren.

Kommentar: Ruth Sonderegger

 
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Veranstaltung
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organisiert von
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Veranstaltungsdatum
-
Ort
Luzern
Sprache
Deutsch
Art des Berichts
Conference