Call for Articles: Industrialisierung – Deindustrialisierung – Reindustrialisierung. Traverse - Zeitschrift für Geschichte 2026/2

15. August 2024
Call for papers

Seit den 1970er Jahren setzte in Westeuropa und Nordamerika eine sozio-ökonomische Transformation ein, die in Wissenschaft und Politik als Deindustrialisierung bezeichnet wird. Die Deindustrialisierung wurde seit den 1970er Jahren immer wieder als Tendenz zu einer postindustriellen Gesellschaft analysiert und wird heute als Signal für eine tiefe Krise im Zeitalter der Globalisierung gesehen. Auch in der Schweiz verlagerten viele Unternehmen ihre Fabriken in Billiglohnländer und schlossen Produktionsstandorte, strukturierten Abteilungen um oder stiessen sie ab. Beschäftigte wurden entlassen, Fabrikareale rosteten vor sich hin oder wurden dem Immobilienmarkt zugeführt. Vielfach wurden die durch die Industrie verursachten ökologischen Schäden erst nach den Betriebsschliessungen sichtbar oder anerkannt. Besonders betroffen waren die Uhren- und die Maschinenindustrie und ihre Standorte: die Industriestädte und -dörfer. Die bisherige Beschäftigungsstruktur der im internationalen Vergleich früh industrialisierten Schweiz veränderte sich stark. Bis in die 2010er Jahren wurden rund die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze gestrichen, während die Beschäftigung im Dienstleistungssektor stark anstieg.[1] Gewisse industrielle Branchen, so etwa die Uhrenindustrie, wiesen im 21. Jahrhundert wieder steigende Beschäftigungszahlen vor.

Trotz dieses tiefgreifenden Wandels bleibt die Deindustrialisierung der Schweiz im kollektiven Gedächtnis eine Leerstelle. Dasselbe gilt für die Forschung. Das Schwerpunktheft der Traverse sucht zum einen nach Beiträgen, welche die Gründe für dieses Desinteresse ergründen. Zum andern sind empirische Beiträge willkommen, welche die Prozesse der Deindustrialisierung in der Schweiz ab den 1970er Jahren untersuchen. Darüber hinaus suchen wir nach Beiträgen, welche die Deindustrialisierung aus einer Perspektive der longue durée untersuchen und die – allzu oft unilinear gedachte – Abfolge von Industrialisierung und Deindustrialisierung in Frage stellen.

Wie die Deindustrialisierung waren auch die Protoindustrialisierung oder der Übergang zur (Hoch-)Industrialisierung grundlegende ökonomische Umbruchphasen, die eine räumliche Neustrukturierung der Produktionsnetzwerke, der Infrastruktur, der Wohnarrangements, produktionstechnische Neuerungen und eine Neuzusammensetzung der Arbeiter*innenklasse mit sich brachten. Sie lassen erkennen, wie prekär industriekapitalistische Gesellschaften eigentlich sind. Der Blick auf räumlich und zeitlich verschachtelte Vorgänge der Industrialisierung, Deindustrialisierung und, womöglich, Reindustrialisierung zeigt, wie bestehende Verhältnisse fortwährend aufgelöst und neu gebildet werden. Das Themenheft möchte diese Dynamiken der Bildung, Auflösung und Neubildung industrieller Gesellschaften einfangen und begreift sie als umstrittenes Terrain voller unterschiedlicher Interessen und Akteur*innen. Auf diese Weise kann dazu beigetragen werden, den Begriff der Deindustrialisierung analytisch zu schärfen, statt ihn als blosse Epochenbezeichnung für die Entwicklungen im globalen Norden seit den 1970er Jahren zu nutzen.

Mögliche Themen und Fragestellungen:

  • räumliche Festsetzung und Verlagerung von Produktionsbetrieben in der Schweiz und ihre sozialen, politischen, kulturellen und ökologischen Folgen
  • De-/Re-Industrialisierung als translokaler bzw. transnationaler Prozess, der Verflechtungen und Abhängigkeiten aufzeigt
  • Wandel der geschlechtsspezifischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse
  • Deindustrialisierung im Kontext der Migrations- und Geschlechtergeschichte: Auswirkungen von Wirtschaftskrisen, betrieblichem Abbau und Verlagerungen auf Migrant*innen und Frauen
  • Industrielle Konflikte um Betriebsschliessungen und Restrukturierungen: wilde und sanktionierte Streiks, die politische Aushandlung von Betriebsschliessungen, die Formierung von lokalen/regionalen Solidarstrukturen von betroffenen Arbeiter*innen, transnationale Erfahrungen
  • Ökologie, Industrialisierung und Deindustrialisierung: Spannungsverhältnis zwischen Umweltbewegung und Gewerkschaften, Umweltkritik an industrieller Produktion, Auswirkungen industriell verursachter Umweltkatastrophen und die Suche nach ökologischen Alternativen
  • Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis: Memorialisierung von Industrie, die Kommerzialisierung von Industrieästhetik durch die Immobilienwirtschaft, das propagierte Selbstbild des Werkplatzes Schweiz, die Rolle von Migrationspolitik und Geschlechterverhältnissen für das (Nicht-)Erinnern von Deindustrialisierung
  • Das kulturelle Echo der Deindustrialisierung nach den 1970er Jahren: Deindustrialisierung als Kontext der Entstehung und Verbreitung von Punk, Industrial und Techno, subkulturelle Aneignungen von ehemaligen Industriearealen (z.B. Besetzungen, Kulturzentren, illegale Parties)

Der geplante Heftschwerpunkt der traverse wird als Ausgabe 2/2026 erscheinen. Willkommen sind Artikel aus allen Epochen, die Phänomene der Industrialisierung, Deindustrialisierung und Reindustrialisierung untersuchen. Die Texte umfassen maximal 30.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) und werden im Peer Review-Verfahren (double blind) begutachtet. Alle Informationen zu den Formalia sowie das Style Sheet finden Sie unter https://revue-traverse.ch/schreiben-fuer-traverse/formale-vorgaben-fuer….

Wir laden Interessierte ein, uns bis spätestens 15. August 2024 ein Abstract von ca. 600 Wörtern, CV (kurz) sowie eine Auflistung der bisherigen allfälligen sachverwandten Publikationen zu senden. Die Abstracts sind an leo.grob@revue-traverse.ch zu senden. Die Autor*innen werden bis spätestens 1. Oktober 2024 über die Entscheidung der Heftherausgeber*innen (Tina Asmussen, Gianenrico Bernasconi, Andreas Fasel, Leo Grob, Matthias Ruoss) benachrichtigt. Deadline für die Eingabe der Artikel ist der 1. April 2025.


[1] Frank Schmidbauer, Martin Baur, Serge Gaillard, Deindustrialisierung: Langfristige Tendenzen und Auswirkungen der Frankenstärke für die Schweiz (Working Paper der Eidgenössischen Finanzverwaltung Nr. 23), Bern 2018, S. 23.

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