Am 1. Januar 1519 begann Huldrych Zwingli (1484-1531) in Zürich am Grossmünster als Leutpriester zu wirken. Dreihundert Jahre später, vom 1. bis 3. Januar 1819 wurde in Zürich ein Reformationsjubiläum gefeiert. Man erinnerte sich an das reformatorische Wirken Zwinglis. In der Lizentiatsarbeit geht es in erster Linie um Erinnerung: Wie hat man sich in Predigten, die in den stadtzürcher Kirchen im Rahmen des Reformationsjubiläums 1819 gehalten wurden, an das Geschehen erinnert, das dreihundert Jahre früher statt gefunden hatte? Die Hauptthese der Arbeit lautet: Am Reformationsfest wurde ausdrücklich ein bürgerliches Integrationsangebot kommuniziert. Dies wird sichtbar in der vor allem in den Predigten vermittelten starken Betonung der Wichtigkeit eines Lebenswandels, der sich an den bürgerlichen Tugenden orientiert. Zwingli selber schon habe – so ein Grundtenor der untersuchten Predigten – die bürgerlichen Werte Tugendhaftigkeit, Bildung, Sittlichkeit und Selbstkritik, um nur die wichtigsten zu nennen, gelebt und verkündet.
Weil dieses bürgerliche Integrationsangebot in der Kirche verkündet wurde, fand es auf einer geistlichen Ebene statt. Deshalb könnte man in der Interpretation des Reformationsfestes sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass die Botschaft des Festes war: Nur diejenigen, welche ein bürgerliches Leben führen, sind wirkliche Christen und gehören zu den Auserwählten. Oder anders formuliert: Reformiert sein heisst, ein bürgerlich- tugendhaftes Leben führen, da Christus selbst in denjenigen Menschen, die er auserwählt, eine tugendhafte Existenz erwirkt. Das bedeutet negativ formuliert, dass all jene, die sich auch Christen nennen, aber nicht dem bürgerlichen Idealbild entsprechen, gar nicht wirkliche Christen sind. Gegen solche grenzte man sich am Reformationsfest ab. Konkret waren – nebst den Katholiken – unter anderen wahrscheinlich die christlich-mystizistischen Bewegungen gemeint, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkamen.
Ferner zeichnen sich die untersuchten Predigten im Vergleich durch einen geringen theologischen Gehalt aus. Einige wichtige theologische wie auch ekklesiologische Anliegen der Reformatoren, wie die Rückbesinnung auf die Bibel als alleinige Richtschnur für ein Leben nach Gottes Wohlgefallen, gerieten in den Hintergrund.
Vielmehr wurde in den Predigten ein mythologisierter Zwingli vermittelt. In einer Zeit der Orientierungslosigkeit wurde ein neuer Mythos konstruiert, der Orientierung vermittelten sollte. Die Predigten und die im Vorfeld des Reformationsfestes publizierten (pseudo-)historischen Publikationen malen, absichtlich oder unabsichtlich, ein tendenziöses Bild der Reformation. Die Prediger nehmen sich von Zwingli das, was ihnen für die Konstitution einer bürgerlichen Gemeinde nützlich zu sein scheint. Gleichzeitig blenden sie dasjenige aus, was nicht in dieses bürgerliche Zwinglibild passt. Aufgrund der Tatsache, dass von staatlicher Seite her die Schulen und Kirchgemeinden mit umfangreichen und zum Teil extra für das Reformationsfest verfassten Schriften beliefert wurden, scheint die Annahme naheliegend, dass der Staat ein bedeutendes Interesse daran hatte, das Reformationsfest als Anlass zu nehmen, die Bevölkerung – oder Teile davon – zu disziplinieren. Die Regierung rechtfertigte also ihr Tun mit dem Verweis auf die göttlichen Taten der Reformatoren. Damit das Volk diese Taktik aber nicht anfechten konnte, musste ihm klar gemacht werden, dass die Regierung genau so gottgewollt war, wie es die Reformation auch war. So scheint das Zürcher Reformationsfest ein staatliches Kirchenfest gewesen zu sein, das das aufstrebende Bürgertum dem Staat gefällig machen wollte, indem es diesem kirchliche Absolution und Daseinsberechtigung verlieh.
Die Tatsache, dass die Festlichkeiten hinter geschlossenen Kirchentoren und in streng vorgegebenen Liturgien abgehalten wurden, sagt einiges über die Art des Erinnerns aus: Das Reformationsfest war zwar öffentlich, da die ganze Bevölkerung ausdrücklich dazu eingeladen wurde. Sie wurde jedoch in die Kirche hinein eingeladen – die Erinnerung fand nicht unter freiem Himmel statt, dem eigentlichen Platz der Öffentlichkeit. Die Zwinglierinnerung wurde innerhalb der Kirche zelebriert, von öffentlichen Umzügen und sonstigen Festlichkeiten berichten die Quellen nichts. Es wurden zwar Gedenkmünzen von Geistlichen an ein auserwähltes Publikum verteilt, aber auch das nur innerhalb der Kirche. Ebenso fanden alle Feierlichkeiten in einer Gottesdienstform statt: Lieder zu Melodien von bekannten Kirchenliedern, Gebete, Katechismen und Predigten – alles Elemente reformierter Liturgie. Im Gegensatz zu Lutherfeiern in Deutschland, die mit öffentlichkeitsnahen Akten inszeniert wurden, feierte man Zwingli eigentlich fast nur hinter verschlossenen Türen.