Verantwortung: Roman Rossfeld
Referierende: Irène Hermann / Sebastian Steiner / Rita Lanz / Rebekka Wyler
Kommentar: Christian Koller
Der schweizerische Landesstreik vom November 1918 wurde von der Geschichtswissenschaft in den vergangenen 98 Jahren wenig bearbeitet. Vor allem fand keine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Bis zur Veröffentlichung von Willi Gautschis Buch „Der Landesstreik 1918“1 im Jahr 1968 dominierte das von den Beteiligten selbst formulierte Narrativ, die Schweiz sei 1918 kurz vor einem Bürgerkrieg gestanden. Diese Forschungslücke ist auch – aber nicht nur – dem Fehlen zugänglicher Quellenbestände in den ersten Jahrzehnten nach dem Ereignis geschuldet. Ziel dieses Panels war es deshalb, neue Forschungsperspektiven, Quellen, Darstellungs- und Deutungsmöglichkeiten zum Landesstreik aufzuzeigen.
Die erste Referentin, IRÈNE HERRMANN, zeigte Möglichkeiten auf, wie man mit dem heutigen Wissen über den langfristigen Verlauf der Geschichte die bekannten Narrative, die bislang die Geschichtsschreibung zum Landesstreik dominierten, hinterfragen kann: Der Streik sei ein Bruch in der Geschichte der Schweiz gewesen, revolutionäre, von Russland unterstützte Kräfte hätten die politische Ordnung umstürzen wollen und – vor allem seit den 1940er Jahren eine vorherrschende Erzählung – die unterlegenen Streikenden seien Opfer der brutal vorgehenden bürgerlichen Regierung und des Militärs gewesen. Sowohl linke als auch rechte politische Kräfte instrumentalisierten diese Narrative für eigene Zwecke. So kam es gleichsam zu einem „ping-pong discursive“. Mit neuen Erkenntnissen können diese Narrative widerlegt werden: Die These der russischen Unterstützung gilt heute als falsch, jene eines geplanten revolutionären Umsturzes zumindest als übertrieben, denn die Streikenden waren in der Schweiz vergleichsweise systemkonform und beabsichtigten eher eine Reform denn eine Revolution. Weiter zeigte Herrmann auf, wie stark der Blick auf die lange Vor- und Nachgeschichte des Landesstreiks die Deutungen verändert. So war der Streikabbruch für die Linken zunächst eine Niederlage, auf lange Sicht wurden jedoch einige der geforderten Entwicklungen angestossen. Bereits ein Jahr später konnten sie die erste Nationalratswahl mit Proporzwahlrecht als Erfolg feiern.
Im zweiten Referat zeigte SEBASTIAN STEINER mit seinen Studien zur Militärjustiz auf, wie sich mit der Erschliessung eines neuen Quellenbestands die Perspektive auf die Ereignisse verändern kann. Als Ausgangspunkt dienten ihm dabei die Prozessakten von 234 Personen, die wegen ihrer Teilnahme am Landesstreik von der Militärjustiz verurteilt worden waren. Dass sich unter den Verurteilten nicht nur Wehrmänner, sondern auch Eisenbahner, gewerkschaftliche und sozialdemokratische Funktionäre befanden, war die Folge der „Verordnung betreffend Massnahmen gegen die Gefährdung und Störung der inneren Sicherheit der Eidgenossenschaft“ vom 11. November 1918. In der Hoffnung, das Militär- und Bundesstrafrechts würde Streiks wirksamer verhindern als drohende Sanktionen des kantonalen Rechts, hatte der Bundesrat die Strafbestände der sogenannten „Landesstreikprozesse“ also erst unmittelbar vor dem Ereignis geschaffen.
Wie sich zeigte, hatte dies auf Beamte und Eisenbahner zwar keine unmittelbar präventive Wirkung, konnte aber während der Streiktage als Druckmittel genutzt werden. Streikenden Beamten und Eisenbahnern wurde mündlich zugesichert, sie könnten mit einem milden Urteil rechnen, wenn sie lediglich die Arbeit niedergelegt hätten. Dies war vermutlich einer der Gründe dafür, dass sich das Oltner Aktionskommitee (OAK) zum Streikabbruch entschloss. Tatsächlich wurden nur relativ wenige Beamte und Eisenbahner angeklagt, was auch ein arbeitsökonomischer Entscheid war. Eine allgemeine Amnestie gab es aber nicht: 184 Personen wurden schwerer, etwa 3000 mittlerer oder leichter Vergehen angeklagt. Je weiter weg der Streik zeitlich rückte, desto höher wurde die Schwelle für Verurteilungen angehoben. Ab Juli 1919 wurden die meisten noch laufenden Verfahren auf Antrag des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) eingestellt. Die Gewerkschaftsvertreter hatten die Befürchtung geäussert, die Arbeiter würden sich sonst aus Unmut gegen die Strafverfahren radikalisieren.
Steiner kam zur Schlussfolgerung, dass bei den Landesstreikprozessen eine eher milde Strafpraxis zur Anwendung kam, die allerdings ein sehr uneinheitliches Bild ergab: Während Beamte und Eisenbahner verhältnismässig mild beurteilt wurden, war das Vorgehen gegen das OAK härter, in der Westschweiz wurden mehr Urteile gesprochen und die Strafen waren umso geringer, je später der Urteilsspruch erfolgte.
Auch im dritten Beitrag von RITA LANZ und REBEKKA WYLER wurde anhand ausgewählter Beispiele das Potential neu erschlossener Quellenbestände für alte und neue Fragestellungen aufgezeigt. Rita Lanz machte auf neue Bestände regionaler und lokaler Branchenverbände aufmerksam, die auf arbeiterbewegung.ch verzeichnet sind. Diese wurden in den vergangenen zehn Jahren vom UNIA-Archiv teilweise erschlossen und aufgearbeitet. Sie ergänzen die Bestände nationaler Verbände, die seit Längerem im Schweizerischen Sozialarchiv zugänglich sind. Eine vom SGB initiierte Arbeitsgruppe „100 Jahre Generalstreik 2018“ erforscht nun diese Quellenbestände und schaltet die Ergebnisse laufend auf generalstreik.ch online. Weitere Projekte zur Bestandeserschliessung sind AEHMO in Lausanne, Collège du Travaila in Genf sowie Fondazione Pellegrini Canevascini in Bellinzona.
Mit zwei Beispielen von Beständen der Holzarbeiter in Thun und der Papierarbeiter in Utzensdorf zeigte Lanz neue Wege einer differenzierteren Historiografie des Landesstreiks auf. Wyler präsentierte neue regionale Quellen der Arbeitgeberseite, jene des Industriearbeitgebervereins Richterswil, und nannte neue Fragestellungen und Forschungsperspektiven, die sich aus solchen Dokumenten ergeben: Bewertung des Landesstreiks durch die Streikenden, Reaktionen der einzelnen Arbeitgeber und der Dorfgemeinschaft, innergewerkschaftliche Aushandlungsprozesse, die Beteiligung von Frauen oder die Lebensverhältnisse der Arbeitnehmenden, die mithilfe des statistischen Materials untersucht werden können. Voraussetzung dafür seien allerdings gute Vorkenntnisse über die lokalen Verhältnisse.
Im abschliessenden Kommentar gab CHRISTIAN KOLLER, Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, einen Überblick über die Phasen der Geschichtsschreibung und -deutung des Landesstreiks. Er betont noch einmal, dass die Narrative hier anders als bei vielen anderen Themen nicht kontinuierlich weiterentwickelt wurden und die in den 1950er und 1970er Jahren erschienenen Werke daher nach wie vor grundlegend sind. In den 1980er und 1990er Jahren gab es nur vereinzelt Regionalstudien oder spezifische Arbeiten zur Erinnerungskultur, Performanzen und Streikdiskursen. Koller ergänzte abschliessend die von seinen Vorrednerinnen erwähnten Forschungsdesiderate und unterstrich damit, dass der Landesstreik für verschiedene Ansätze einen fruchtbaren Forschungsgegenstand darstellt.
Die verschiedenen Beiträge zeigten die gegenwärtig ausserordentlich günstigen Voraussetzungen zur Weiterentwicklung der Historiografie des Landesstreiks. Das anstehende 100-Jahr-Jubiläum sorgt für eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema, gleichzeitig bieten neu verfügbare Quellenbestände und breitere Forschungsinteressen ein grosses Potential für neue Erkenntnisse.
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Anmerkungen
1 Willi Gautschi, Der Landesstreik 1918, Zürich 1968
Panelübersicht:
Hermann, Irène: La grève générale ou la gestion mémorielle de l’échec
Steiner, Sebastian: «Geist der Verständigung oder Geist der Rache?» Die Militärjustiz und die Landesstreikprozesse 1918/1919
Lanz, Rita; Wyler, Rebekka: Neue Quellenbestände aus regionalen und nationalen Archiven zur Geschichte des schweizerischen Landesstreiks