Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Julia
Richers
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2020/2021
Abstract
Der britische Sozialismus um 1900 war im Unterschied zu den meisten europäischen sozialistischen Parteien nicht marxistisch geprägt. Vielmehr dominierte eine moralisch-ethische Auffassung des Sozialismus, der Werte wie Selbstlosigkeit und Nachbarschaftshilfe ins Zentrum rückte. Sozialist*innen sollten ihr Handeln nach dem Gemeinwohl ausrichten. Zahlreiche Vorkämpfer*innen des britischen Sozialismus bemühten sich deshalb, die sozialistischen Ideale in ihrem Alltag vorzuleben. Die bisherige Forschung zur britischen Sozialismusgeschichte hat diese individuellen Versuche, die sozialistischen Utopien in eine konkrete Alltagspraxis umzusetzen, bisher zu wenig ernst genommen.
Die vorliegende Masterarbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Schliessung dieser Forschungslücke. Anhand des Ehepaars Katharine (geb. Conway) und Bruce Glasiers untersucht sie exemplarisch, in welchem Verhältnis die sozialistischen Ideale und die alltägliche Handlungspraxis der Eheleute zueinanderstanden. Als Quellenkorpus dient dabei der umfangreiche Nachlass der Glasiers im Archiv der University of Liverpool. Nebst Tagebüchern und Schriften umfasst dieser wertvolle Bestand den umfangreichen Briefwechsel zwischen den Eheleuten, der im Zentrum dieser mikrohistorischen Analyse liegt. Obwohl sich der Untersuchungszeitraum der Arbeit von der Eheschliessung im Jahr 1893 bis zu Bruce Glasiers Krebstod 1920 erstreckt, rücken die Vorkriegs- und Kriegsjahre 1911 bis 1917 besonders in den Fokus.
Im ersten Teil bildet die Ehe der Glasiers den eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Darin wird ausgearbeitet, inwiefern die Glasiers als Vorkämpfer*innen der sozialistischen Bewegung Grossbritanniens ihre politischen Ideale einer vollkommen gleichberechtigten Gesellschaft in ihrer alltäglichen Ehepraxis vorzuleben suchten. In einem zweiten Schritt weitet sich der Untersuchungsgegenstand aus und nimmt die Freundschaften der beiden Eheleute zu führenden Figuren innerhalb der Independent Labour Party (ILP) in den Blick. Die Arbeit verfolgt damit einen verflochtenen Ansatz aus Alltags-, Geschlechter- und Ideengeschichte, wobei die beziehungsgeschichtlichen Aspekte im Fokus liegen. Damit knüpft die Arbeit vor allem an die Arbeiten von Caroline Arni (Entzweiungen, 2004, Der Sozi-Mann, 2012), Laura Polexe (Netzwerke und Freundschaft, 2011) und in geringerem Masse auch von Karin Huser (Eine revolutionäre Ehe in Briefen, 2003) an.
Die Analyse der Ehe Glasier zeigt eindrücklich auf, dass es sich hierbei um einen bewussten Entwurf einer „sozialistischen Ehe“ handelte und sich im Hause Glasier das Politische untrennbar mit dem Privaten verschränkte. Anhand des Briefwechsels kann deutlich aufgezeigt werden, dass die Glasiers ihr Eheleben als sozialistischen Gegenentwurf zur viktorianischen Ehe verstanden und sich gegen deren prüde Sexualmoral und strikte Trennung zwischen einer weiblichheimischen und einer männlich-öffentlichen Sphäre auflehnten. Die beiden unterhielten sich offen über Themen wie Sexualität und Körper und machten sich teils gar über die Sittenprüderie ihrer Nachbarn lustig. Katharine führte auch nach der Geburt der insgesamt drei Kinder ihr öffentliches Leben als politische Aktivistin, verfügte über ein eigenes Einkommen und wahrte so ihre ökonomische Unabhängigkeit. Bruce brachte sich seinerseits aktiv in die Kinderbetreuung ein. Die Glasiers verstanden ihre Ehe deshalb als eine vollkommen gleichberechtigte, sozialistische Arbeitsgemeinschaft.
Die Analyse deckt aber auch klare Diskrepanzen zwischen diesem idealisierten Selbstbild der Ehe und der alltäglich gelebten Ehepraxis der Glasiers auf. Trotz aller handfesten Bemühungen der Eheleute, eine gleichberechtigte Beziehung zu führen, trug Katharine eindeutig die Hauptverantwortung in der Haushaltsführung und der Kinderbetreuung. Katharine war einer massiven Mehrfachbelastung ausgesetzt. Sie war gleichzeitig Mutter, Hausfrau und politische Aktivistin, während Bruce sich trotz gelegentlichen familiären Verpflichtungen mehrheitlich seiner politischen Arbeit widmen konnte.
Im zweiten Teil geraten die Freundschaften der Glasiers zu Keir Hardie, Ramsay MacDonald und Philipp Snowden und deren Ehefrauen in den Fokus. Gemeinsam mit Bruce Glasier gelten sie als die vier zentralen Führungsfiguren der frühen ILP. Sie werden deshalb im gängigen historiographischen Narrativ als Big Four bezeichnet. Dieses Narrativ vermag die vorliegende Arbeit zu revidieren. Unter Berücksichtigung der politisch ebenfalls sehr aktiven Ehefrauen lässt sich aufzeigen, dass die Big Four nur dank vorangehender Frauenfreundschaften überhaupt zusammenfanden. Somit hat der mikroanalytische Fokus auf die Beziehungen führender sozialistischer Persönlichkeiten neue Erkenntnisse zur britischen Sozialismusgeschichte zu Tage geführt. Die vorliegende Arbeit versteht sich deshalb als Plädoyer, Sozialismusgeschichte immer auch als Beziehungsgeschichte aufzufassen.