Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Dr. habil.
Carmen
Scheider
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2021/2022
Abstract
Die Installierung eines sozialistischen Staats- und Gesellschaftsmodells (1945) und der Bruch mit der Sowjetunion (1948) beeinflusste den jugoslawischen Sexualitätsdiskurs mehrfach: Einerseits führte die daraus resultierende Ablehnung von religiös, traditionell, patriarchal oder sowjetisch interpretierten Wertkomplexen zu einer Offenheit gegenüber progressiven Normen zur Sexualität. Andererseits hatte diese Ablehnung ein Vakuum an sexuellem Wissen zur Folge. Diese Lücken, die die zurückgewiesenen Wissensbestände hinterlassen hatten, wurden alsbald durch medizinische Expert*innen gefüllt, die unter anderem in Zeitschriften Wissen zu Sexualität vermittelten.
Die vorliegende Arbeit untersucht diese massenmediale Wissensvermittlung zur Sexualität im sozialistischen Jugoslawien anhand der Aufklärungskolumnen Intimni razgovori/ in der Kommunistischen Jugendzeitschrift Mladost (1956 – 1966) und Evin notes im Zeitschriftenhybrid Start (1972 – 1979). Sie geht erstens der Frage nach, welche Moralcodes die Aufklärungskolumnen hinsichtlich Sexualität vermittelten. Zweitens stellt sie die Frage, inwiefern der sozialistische Gesellschaftsentwurf Jugoslawiens auf das Wissen und die Normen rund um den Sex einwirkten. Mit einer wissensgeschichtlichen Methodik werden die Aufklärungskolumnen hinsichtlich vier Dimensionen analysiert: ihrer medialen Funktionsweisen, der involvierten Akteur*innen, der vermittelten Wissensinhalte sowie der Genealogie dieses Wissens.
In der Aufklärungskolumne Intimni razgovor/i bot der Experte Dr. Pavle Milekić in Monologform Rat in Sachen Sex, Beziehung, Pubertät oder Problemen in der Schule. Den Sex unterstellte der Experte den Bedürfnissen der jugoslawischen Gesellschaft: Um das Kollektiv nicht mit einer ungewollten Schwangerschaft zu belasten, riet er kategorisch von vorehelichem Sex ab. Dadurch wurden praktische Ratschläge zur Verhütung oder zu sexuellen Techniken aus dem Zuständigkeitsbereich einer Kolumne ausgeklammert, die sich in erster Linie an Jugendliche richtete. Überdies pathologisierte die Kolumne Homosexualität und Masturbation.
Mitte der 1960er Jahre wurde die jugoslawische Presse schliesslich zunehmend von den zahlreichen Kontrollmechanismen befreit und Wettbewerbsmechanismen ausgesetzt, was eine starke Vervielfältigung der Presse und Zeitschriften wie Start hervorbrachte – ein Format, das ab 1972 seriöse Reportagen, Interviews mit internationalen Persönlichkeiten, Nacktbilder und Sexualaufklärung publizierte. In Aufklärungskolumnen wie Evin notes reagierten Expert*innen nun direkt auf schriftliche Einsendungen von Leser*innen. An die Stelle der Norm, keinen Sex vor der Ehe zu haben, trat in Evin notes der Anspruch ans Individuum, auch während der Jugend innerhalb der Liebesbeziehung sexuell aktiv und befriedigt zu sein. Innerhalb der Liebesbeziehung war denn auch alles erlaubt, was der individuellen Befriedigung diente.
So vermittelte der Experte Marijan Košiček den Leser*innen das nötige Wissen zu Verhütung sowie zu Sexstellungen und -techniken, um dem Liebespaar zu befriedigendem Sex zu verhelfen. Aus Košičeks Norm des Beziehungssex vorerst ausgeschlossen blieb jedoch Sex zwischen gleichgeschlechtlichen Partner*innen, den er erst nach dessen Legalisierung durch das kroatische Strafgesetz 1977 normalisierte.
Ein Kontinuum, das den jugoslawischen Sexualitätsdiskurs prägte, war die hohe Gewichtung der Gleichberechtigung von Mann und Frau: Schon in Intimni razgovori galt die Gleichberechtigung als selbstverständlicher Wert. Korrespondierend mit der Rhetorik der Kommunistischen Partei, die die ‚Frauenfrage‘ weitgehend als gelöst erachtete, wurde die Gleichberechtigung jedoch als Gegebenheit verstanden und jeglicher Handlungsbedarf verneint.
In Evin notes ging der Experte Marijan Košiček einen Schritt weiter, indem er die Gleichberechtigung explizit auf den Sex anwandte: Dadurch wurde die sexuelle Befriedigung der Frau zum zentralen Moment des in Evin notes vermittelten Wissens. Ermöglicht wurde diese Verschiebung nicht zuletzt durch die liberale Gesetzgebung hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs und durch die staatliche Förderung moderner Verhütungsmittel ab Mitte der 1950er Jahren, die den sexuellen Akt von der Gefahr einer Schwangerschaft zu lösen vermochten.
Diese Erkenntnisse stellt die Autorin schliesslich in einen internationalen Kontext: Sie fragt einerseits danach, ob im sozialistischen Jugoslawien von einer ‚sexuellen Revolution‘ gesprochen
werden kann. Andererseits skizziert sie einen Vergleich mit der Aufklärungskolumne Dr. Sommer in der westdeutschen Jugendzeitschrift Bravo.
Diese transnationale Perspektive zeigt einerseits, dass das progressive Selbstverständnis Jugoslawiens auch die sexuellen Moralcodes stark beeinflusste. Andererseits zeigt der Vergleich, dass die ‚balkanistische Gegenüberstellung‘, jene pauschale Dichotomie von ‚Europa‘ und ‚Südosteuropa‘, scheitern muss.