Die Fremdplatzierung von «bedürftigen» Kindern. Die Stadtberner Gotthelfstiftung in der mixed economy of welfare der Schweiz (1887 – 1918)

Cognome dell'autore
Yvonne
Schüpbach
Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Dr.
Sonja
Matter
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2019/2020
Abstract
Was passiert mit Kindern, wenn sie in «traurigen Verhältnissen» aufwachsen und schlecht erzogen werden? Was, wenn sie den gesellschaftlichen Ansprüchen in sozialer, moralischer, religiöser und staatsbürgerlicher Hinsicht nicht gerecht werden können? Die Stadtberner Gotthelfstiftung reagierte auf diese «Bedrohung» durch «verwahrloste» Familien mit der Fremdplatzierung von deren Kindern. Die Stadtberner Gotthelfstiftung wurde 1887 gegründet und 2004 aufgelöst. Die vorliegende Arbeit untersucht erstmals den Quellenbestand zu dieser relevanten Akteursgruppe in sozial- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Die Arbeit legt den Fokus auf die ersten 31 Jahre von der Gründung der Stiftung 1887 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Fragen, wie sich die Legitimation und Organisation der Tätigkeiten der Stadtberner Gotthelfstiftung während des Untersuchungszeitraumes veränderten, welche vorherrschenden Gesellschaftsmuster die Stiftung durch ihre Tätigkeiten reproduzierte und wie sich die Gotthelfstiftung der Stadt Bern in den Jahren 1887 bis 1918 in die mixed economy of welfare der Schweiz einordnen lässt. Die zentralen Analysekategorien dieser Arbeit, nämlich class, gender und Familienideale, sollen Machtverhältnisse und die Vergeschlechtlichung von Fremdplatzierungspraxen sichtbar machen und haben ausserdem intersektionelle Implikationen. Nach Philipp Mayrings Qualitativer Inhaltsanalyse werden qualitative und quantitative Analyseergebnisse gemeinsam zur Beantwortung der Fragestellungen herangezogen. Untersucht werden hauptsächlich Jahresberichte, die im Untersuchungszeitraum erschienen sind. Diese Berichte enthalten Angaben zu Finanzen, Mitgliederlisten und Verzeichnisse der Pflegekinder. Vereinzelt werden auch Protokolle hinzugezogen. Die Quellen zur Stadtberner Gotthelfstiftung befinden sich im Staatsarchiv Bern und im Stadtarchiv Bern. Die Stiftung hatte sich bei ihrer Gründung zum Ziel gesetzt, die staatliche Armenfürsorge zu ergänzen. Deshalb nahm sie fortan Fremdplatzierungen von Kindern vor, welche sie als «bedürftig» und «verwahrlost» einstufte. Die Legitimation ihrer Tätigkeiten erklärte sich für die Stadtberner Gotthelfstiftung durch die Dringlichkeit der sozialen Missstände, durch die Prekarität der Lebensumstände der Unterschicht und die als unzulänglich empfundene kommunale und kantonale Armenfürsorge. Ideell stellte sich der Verein in die Tradition von Jeremias Gotthelf, der die Armenfürsorge und die Armenerziehung für Kinder dieser Zeit nachhaltig prägte und grosse Popularität genoss. Eine weitere Legitimationsquelle stellten die Norm- und Moralvorstellungen der Stiftung dar. Gemäss diesen wollten sie ihre Pflegekinder zu tugendhaften Menschen erziehen, die sich für die Gesellschaft des Bundesstaates als brauchbare Mitglieder und Bürger*innen erweisen und ihr nützen sollten. Auch das Christentum war ein wichtiger Legitimationsbezugspunkt. Eine Verschiebung der Legitimation gab es Ende des 19. Jahrhunderts insofern, als Armut nun als systemisches und nicht mehr nur durch ein «verwahrlostes» Milieu geprägtes Phänomen interpretiert wurde. Die Fremdplatzierungspraxen der Stadtberner Gotthelfstiftung dienten als Instrument der gehobenen Mittelschicht und des Bürgertums, um ihre patriarchalischen Machtansprüche durchzusetzen. Die Fremdplatzierung von «bedürftigen» Kindern durch die Stiftung dienten der Armenfürsorge und der Armenerziehung zugleich. Die Aufmerksamkeit der diversen Akteursgruppen, die Fremdplatzierungen durchführten und Pflegekinder oft auch in Anstalten und Heime einwiesen, galt devianten Personen und ihren Familien. Dabei waren class und gender zusammen mit den damit verbundenen Norm- und Moralvorstellungen nicht nur in der Gründung der Stiftung und in der Wahl der Vorstandsmitglieder wirksam, sondern ebenso im Ausfindigmachen und Deklarieren der «bedürftigen» Kinder, in der Auswahl der Pflegefamilien und in der Sanktionierung und Überwachung der Pflegekinder. Die Stadtberner Gotthelfstiftung war während des Untersuchungszeitraums nicht nur selbst eine Akteurin in der mixed economy of welfare, sondern fungierte auch hinsichtlich ihrer Finanzierung als Beispiel für den public-private mix in der Fürsorgelandschaft der Schweiz. Die mixed economy of welfare in der Stadt Bern und das rechtliche Vakuum in Bezug auf Fremdplatzierungen von «bedürftigen» Kindern ermächtigten die Stadtberner Gotthelfstiftung, frei zu agieren und solche Fremdplatzierungen vorzunehmen. Auch politisch war die Stiftung vernetzt, wie deren Mitarbeit beim Kinder- und Frauenschutz, zum Niederlassungsgesetz und zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch beispielhaft aufzeigen. Diese verdeutlichen, dass die Meinung der Stadtberner Gotthelfstiftung als Expertenstimme in der Fürsorgethematik galt und ernstgenommen wurde. Auch wenn die vorliegende Masterarbeit nicht alle Untersuchungsperspektiven einnehmen konnte und somit Lücken für weitere Untersuchungen offen lässt, bestätigt sich doch, dass die Stadtberner Gotthelfstiftung ein sehr relevanter Bestandteil der mixed economy of welfare war und deren Fremdplatzierungspraxen nicht nur die Fürsorgelandschaft in Bern, sondern auch weiterreichende politische und gesellschaftliche Prozesse mitgeprägt haben. Die Stiftung prägte die Gesellschaft der Stadt Bern und darüber hinaus, reproduzierte bürgerliche und patriarchale Idealvorstellungen und beeinflusste die Biografien von 311 Pflegekin- dern zwischen 1887 und 1918.

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