Autonomie durch Observanz und Verflechtung. Die Zisterzienser von St. Urban und Wettingen im 17. Jahrhundert

Cognome dell'autore
Lukas
Camenzind
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Christian
Windler
Co-direttore
Prof. Dr. Nadir Weber
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2023/2024
Abstract

In den 1650er Jahren befanden sich die Zisterzienserklöster St. Urban und Wettingen gleichsam im Krisenmodus. Kurz nachdem der Abt von St. Urban wegen Ungehorsams nach Rom zitiert und über ein Jahr lang festgehalten worden war, brach der Bauernkrieg aus, dessen Stosswellen die Herrschaft der beiden Klöster erschütterten und die Legitimität der Äbte als „Gnädige Herren“ infrage stellten. Auch der wenig später zwischen katholischen und reformierten Orten ausgefoch tene Erste Villmergerkrieg stellte für die Klöster eine existenzielle Bedrohung dar. Zu allem Übel wurden Ehre und guter Ruf der Klöster durch die wiederholte Flucht mehrerer Mönche und deren skandalträchtiges Verhalten sowie durch ordensinterne Konflikte bedroht. „Weltflucht“, Kontemplation und der Anspruch auf eine Rückkehr zur ursprünglichen Benediktsregel kollidierten auf eindrucksvolle Weise mit der Realität. Während sich St. Urban und Wettingen, ähnlich wie korporativ verfasste Dorf- und Talschaftsverbände so- wie Adelsherrschaften, mit einer immer stärkeren Tendenz zur territorialhoheitlichen Vereinheitlichung der weltlichen Obrigkeit konfrontiert sahen, wehrten sich Bauern aus den umliegenden Dörfern gegen die Bezahlung von Zinsen, Zehnten und weiteren Abgaben. Zudem mischten sich die Nuntien vermehrt in die Angelegenheiten der Klöster ein, bestrebt, Rom als unangefochtenes Zentrum der katholischen Universalkirche zu positionieren.

 

Der spärlichen Forschung zur Geschichte der beiden Zisterzienserklöster im 17. Jahrhundert stehen überaus reichhaltige Quellenbestände gegenüber – allein die litterae variae der Äbte von St. Urban umfassen 24 Bände. Indem sie neue Fragestellungen an den Forschungsgegenstand heranführt und neben den schweizerischen auch umfangreiche römische, französische und deutsche Quellenbestände berücksichtigt, trägt die Studie dazu bei, den bislang von der älteren Ordenshistoriographie dominierten Blick auf die Geschichte St. Urbans und Wettingens zu erweitern und insbesondere auch der translokalen, europäischen Positionierung dieser Klöster im Spannungsfeld Corpus helveticum-Heiliges Römisches ReichFrankreich-Rom Rechnung zu tragen. In Anlehnung an neuere Zugänge der Frühneuzeitforschung – erwähnt seien etwa die Begriffe Verflechtung, Kulturgeschichte des Politischen und neuere Aussenbeziehungsforschung – geht die Studie in akteurszentrierter und vergleichender Perspektive der Frage nach, welche Strategien Äbte und Mönche anwandten, um die Autonomie ihrer Klöster – d.h. möglichst grosse Eigenständigkeit in rechtlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht – zu bewahren. Die Veränderungen im Spannungsfeld Corpus helveticum-Heiliges Römisches Reich-Frankreich-Rom stellten dabei aber nicht nur eine Bedrohung dar, sondern eröffneten auch neue Handlungsspielräume, welche manche Zisterzienser mit mehr oder weniger Geschick nutzten. Indem sie solche Interaktionen ausleuchtet, leistet die Studie einen Beitrag zur Geschichte der von regionaler Pluralität, lokaler Eigenständigkeit und globaler Verflechtung geprägten katholischen Kirche im „langen“ 17. Jahrhundert.

 

Die Ausgangshypothese lautet, dass die Zisterzienser von St. Urban und Wettingen im Verlauf des 17. Jahrhunderts ihre Autonomie jeweils dann am erfolgreichsten bewahren konnten, wenn es ihnen gelang, die Legitimationsressource Observanz – d. h. der Gestaltung des Alltags gemäss der Ordensregel und die damit verbundene Selbststilisierung in Abgrenzung zur „Welt“ – zu nutzen und personale Beziehungsnetzwerke zu aktivieren. Geradezu idealtypisch steht Abt Edmund Schnyder von St. Urban für Vorgehensweisen, die nicht nur defensiv ausgerichtet waren, sondern neue Handlungsmöglichkeiten erschlossen, die sich aufgrund der Veränderungen eröffneten: Im Verlauf seiner ausserordentlich langen Amtszeit inszenierte er sich als Reformer und Erneuerer seines Klosters und des Ordens insgesamt. Geschickt pflegte er die Beziehungen zum Ordenszentrum in Cîteaux und zu anderen Klöstern, zu den Vertretern der französischen Krone in der Eidgenossenschaft und zu den Eliten nicht nur der katholischen Orte, sondern auch des reformierten Nachbarn Bern. Auf diese Weise setzte er sich gegen seine zahlreichen Rivalen innerhalb der Kongregation und des Ordens durch und gewann dort ein Mass an Einfluss, das jenes seiner Vorgänger im Amt als Abt bei weitem übertraf.

 

Der erste Teil (Die Praxis von Observanz) untersucht, wie und von wem innerhalb des Zisterzienserordens insgesamt, der oberdeutschen Zisterzienserkongregation sowie der einzelnen Klöster Regelobservanz definiert, kontrolliert und durchgesetzt wurde. Sowohl ordensinterne wie auch -externe Akteure forderten und erwarteten von Äbten und Mönchen einen stets tadellosen, an der Ordensregel ausgerichteten Lebenswandel. Regelmässige Visitationen der Klöster sollten die Einhaltung von Regelobservanz gewährleisten und das Bekanntwerden von Skandalen verhindern. Doch wie genau Regel und Ordensstatuten ausgelegt und wer für deren Durchsetzung sorgen sollte, war ordensintern umstritten. Observanz kann dementsprechend nicht einfach als ein Ensemble von Normen betrachtet werden, die mehr oder weniger zwingend durchgesetzt wurden. Vielmehr handelt es sich um eine Legitimationsressource, welche im Widerstreit zueinanderstehende ordensinterne und -externe Akteure mehr oder weniger geschickt einsetzten. Aus einer solchen Perspektive richtet sich der Blick insbesondere auf die Auseinandersetzungen um den Konsum von Fleisch und um die vom Konzil von Trient geforderte Einführung der strengen Klausur in den Frauenklöstern des Ordens.

 

Das Verhältnis zwischen den Klöstern und ihrem weiteren weltlichen Umfeld ist Inhalt des zweiten Teils (Kloster und Welt). Die Mönche von St. Urban und Wettingen waren eingebunden in personale Beziehungsnetzwerke, die sie mit den Eliten der eidgenössischen Orte verbanden. Dank der Pflege und Aktivierung solcher Netzwerke gelang es den Klöstern, Rechte und Privilegien gegenüber weltlichen Obrigkeiten, Untertanen, Zinsbauern oder sonstigen von den Klöstern Abhängigen durchzusetzen. So glichen etwa die Äbte von St. Urban durch enge Kontakte zum reformierten Stand Bern, in dessen Burgrecht sie standen, sowie zur französischen Ambassade in Solothurn die vergleichsweise schlechten Beziehungen zu Luzern aus. Dies ermöglichte es ihnen, nicht nur den Besitzstand ihres Klosters zu wahren, sondern dessen Rechte auszubauen. Aufgrund der konfessionellen Grenzlage waren St. Urban und Wettingen bemüht, gute Beziehungen zu ihren reformierten Nachbaren zu unterhalten. In Wettingen waren die Äbte bestrebt, den konfessionellen Frieden in der gemischtkonfessionellen Grafschaft Baden zu wahren. Indem sie die religiöse Komponente ihres Amtes in den Hintergrund stellten und als Herren von Stand und Teil der politischen Elite des Corpus helveticum in Erscheinung traten, gelang es ihnen, dauerhafte und belastbare Kommunikationskanäle zu ihren reformierten Nachbarn zu unterhalten.

 

Im Fokus des letzten Teils (Im Widerstreit mit Rom) stehen die konfliktreichen Beziehungen zwischen den Zisterziensern einerseits und der römischen Kurie beziehungsweise deren Vertretern vor Ort, den Nuntien, andererseits. Im Gefolge der Etablierung der Luzerner Nuntiatur 1586 entbrannten zwei Konflikte, die über hundert Jahre dauerten und das Verhältnis zwischen den Zisterziensern und Rom nachhaltig prägten. Während im sogenannten Beichtigerhandel die Beicht- und Visitationsrechte in den Zisterzienserinnenklöstern Eschenbach und Rathausen und somit die Kontrolle über weibliche Mitglieder des Ordens im Vordergrund standen, ging es im Konflikt um die Abtwahlen in St. Urban und Wettingen um das Selbstverständnis der Klöster als autonome Glieder der Kirche. Denn während die Zisterzienser ein korporatives Verständnis der Kirche verfochten, in welchem Orden und Klöster ähnlich wie die Konzilien über eigene Rechte verfügten, versuchten die Nuntien mit mehr oder weniger Nachdruck einen „absoluten“, im natürlichen und göttlichen Recht verankerten Herrschaftsanspruch durchzusetzen, wie ihn das Papsttum in der Frühen Neuzeit erhob (Paolo Prodi). Der daraus abgeleitete Anspruch der Nuntien, bei Abtwahlen den Vorsitz einzunehmen und die neugewählten Äbte durch den Papst bestätigen zu lassen, führte deshalb zu stets neu aufflammenden Konflikten, in welche an der Seite der Klöster einflussreiche Mitglieder der eidgenössischen Eliten und Vertreter der französischen Krone in der Eidgenossenschaft und in

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