Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Brigitte
Studer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2017/2018
Abstract
Die bisherige Forschung hat dargelegt, dass in der Schweiz der 1940er und 1950er Jahre dank der Hochkonjunktur ein regelrechter „Boom“ zur beruflichen Eingliederung Behinderter stattfand. Der Impuls für diese neuen Bestrebungen wurde bislang grosso modo auf die Gründung der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter (SAEB) 1951 zurückgeführt. Nur vermutet wurde bis anhin, dass entsprechende Konzepte bereits zuvor in der institutionellen Praxis der Behindertenhilfe entwickelt worden waren. An diesem Punkt setzt die Masterarbeit an, indem sie der Herausbildung neuer Massnahmen zur beruflichen Eingliederung Gehörloser an der Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen ab den frühen 1940er Jahren aus einer akteurszentrierten und geschlechterhistorischen Perspektive nachgeht. Die verstärkten Massnahmen zur Berufseingliederung sind dabei in einem komplexen Geflecht von wirtschaftlicher Lage und institutionellen Veränderungen in der Gehörlosenfachhilfe zu verorten. In den 1930er Jahren gerieten die im 19. Jahrhundert gegründeten Taubstummenanstalten schweizweit in eine Krise: Aufgrund des Rückgangs der sogenannten endemischen Gehörlosigkeit sanken die Schüler_innenzahlen Mitte der 1930er Jahre rapide. Um das Fortbestehen der Institutionen zu garantieren, wurden verschiedene Massnahmen ergriffen, u. a. Schulzeitverlängerungen und die Erweiterung des Kompetenzbereiches auf Sprachheilschulung. In dieser Zeit wurde die Taubstummenanstalt und (schweizweit erste) Sprachheilschule St. Gallen unter Hans Ammann (Leiter von 1937 – 1970) zur führenden Institution im Gehörlosenwesen. Im Zuge der Deutung des Rückgangs der endemischen Gehörlosigkeit entwarfen die Fachpersonen ein neues Bild der verbliebenen „jungen“ Gehörlosen als „begabter“ und besser in die hörende Welt integrierbar. Dieses Bild wurde jedoch durch eine weiterhin defizitäre Auffassung Gehörloser durch die Fachhilfe konterkariert. Zeitgleich verschlechterten sich die Arbeitsmarktchancen Gehörloser wegen neuer Berufsbildungsgesetze und der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, sodass entsprechende Massnahmen zur beruflichen Eingliederung an der Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen als nötig erachtet wurden. Mit der Gründung der Fürsorgestelle, die sich ab 1942 an der Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen der Berufsfrage bei Gehörlosen annahm, wurden entsprechende Massnahmen – Berufsberatung, Stellenvermittlung, Erziehung zu fleissigem Arbeiten und die Etablierung eines Netzwerks zu Unternehmen – durch die „Fürsorgesekretärin“ Clara Iseli vorangetrieben. Aus ihrer akteurszentrierten Perspektive kann die Masterarbeit zeigen, dass Clara Iseli, auch ohne formelle Ausbildung in der Sozialen Arbeit, sich in ihrer täglichen Arbeit mit Gehörlosen und im Austausch mit Arbeitgeber_innen und einem Berufsberater breites theoretisches und praktisches Wissen aneignete und zur prägenden Figur der St. Galler Gehörlosenfachhilfe wurde. Dank Clara Iselis intensiver Bemühungen wurden in den 1950er Jahren neue Berufe für Gehörlose zugänglich. Aufgrund des vergeschlechtlichten Arbeitsmarktes profitierten fast ausschliesslich gehörlose Männer von neu erschlossenen Berufen in der Industrie, während Frauen in Hausdienst und Textilindustrie, und damit in Arbeitsfeldern blieben, in denen in der Forschung eine Unterschichtung des Arbeitsmarktes qua Geschlecht und Nationalität konstatiert wurde (besonders ausländische Frauen arbeiteten in der Nachkriegszeit in diesen Branchen, in denen substanzieller Arbeitskräftemangel herrschte). Es wird klar, dass Behinderung (resp. Gehörlosigkeit) als die Gesellschaft strukturierende Machtdimension in die Analyse miteinbezogen werden muss. Ein geschlechterhistorischer Blick erlaubt hier einen differenzierten Blick auf den in der Literatur mehrfach aufgegriffenen Quellenbegriff der „typischen Taubstummenberufe“, der sich effektiv vorwiegend auf Berufsperspektiven für gehörlose Männer beschränkt, und relativiert die „behauptete“ Ausweitung der Berufsperspektiven für Gehörlose in den 1950er Jahren als eine einseitige und geschlechtsspezifisch geformte Entwicklung. Abschliessend fragt die Arbeit nach der Aussenwirkung und Verflechtung zwischen dem von der SAEB ausgelösten „Boom“ und den St. Galler Massnahmen zur Eingliederung Gehörloser. So kann aufgezeigt werden, dass Clara Iseli fast vollständig aus Erinnerung und Geschichtsschreibung verschwindet: Mit Hans Ammann verfügte die schweizweit organisierte Gehörlosenfachhilfe über einen Exponenten, der in der SAEB und sogar im politischen Prozess zur Legiferierung des Eingliederungspostulates in der IV von 1960 Einfluss nahm. Dass Hans Ammann sein Engagement zur beruflichen Eingliederung aus der Taubstummenanstalt und Sprachheilschule St. Gallen heraus bis in die nationale Politik tragen konnte, war dabei eng mit Clara Iselis Engagement verknüpft, auf deren Wissen und Erfahrung sich Hans Ammann in der politischen Arbeit massgeblich stützte. Eine wichtige Erkenntnis der vorliegenden Arbeit ist, dass auch hinsichtlich der Wissensproduktion in der Sozialpolitik vermehrt lokale Institutionen und deren Praxiserkenntnisse untersucht werden sollten, nicht zuletzt um geschlechtsspezifischen Ausschlussmechanismen von Frauen aus der Geschichte entgegenzuwirken.