„La matière miraculeuse“? Die Verwendung von Radiumleuchtfarben in der Schweizer Uhrenindustrie und der Schutz der Radiumsetzer_innen vor ionisierenden Strahlen im Kontext des Arbeitsschutzes (1907 – 1963)

Cognome dell'autore
Lukas
Emmenegger
Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Brigitte
Studer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2019/2020
Abstract
In der schweizerischen Uhrenindustrie wurden von 1907 bis 1963 Zeiger und Zifferblätter mit Radiumleuchtfarben bemalt, damit die Uhrzeit auch im Dunkeln abgelesen werden konnte. Viele Arbeitnehmer_ innen inkorporierten dabei aufgrund fehlender Schutzmassnahmen grössere Mengen dieser höchst radiotoxischen Leuchtfarben, was teilweise zu irreparablen Gesundheitsschäden führte. Die quellengeleitete Masterarbeit geht der Frage nach, wie die Schweizer Radiumleuchtfarbenbranche strukturiert war und wie der Schutz der Radiumsetzer_innen vor ionisierenden Strahlen im Kontext der Schweizer Strahlenschutzgesetzgebung sowie der Genese des schweizerischen Arbeitsschutzes zu beurteilen ist. Nebst dem kritischen Umgang mit der wenigen vorhandenen Forschungsliteratur werden in der Masterarbeit die in rund vierzehn Schweizer Archiven untersuchten Quellenbestände mittels der Methode der Quellenkritik und der hermeneutischen und analytischen Quelleninterpretation ausgewertet. Zudem spielt die Methode der deskriptiven Statistik bei der Auswertung der zusammengetragenen Daten eine zentrale Rolle. Die Schweizer Uhrenindustrie und die ihr angegliederten Branchen sind durch verschiedene Unternehmensformen und Produktionsmodelle sowie durch eine ausgeprägte professionelle und lokale Diversifikation und Fragmentierung gekennzeichnet. Es erstaunt daher nicht, dass sich die wirtschaftlichen Strukturen der Leuchtfarbenbranche ebenfalls als äusserst heterogen erwiesen haben. Der grösste Teil der anfallenden Radiumsetzarbeiten wurden von den Uhrenfabriken beziehungsweise den Manufakturen, den Etablisseuren und Termineuren, den Zifferblatt- und Zeigerfabrikanten sowie den weiteren Bestandteilherstellern an spezialisierte Klein- und Kleinstbetriebe wie auch an Heimarbeiter_innen ausgelagert. Das Setzen radioaktiver Leuchtfarben galt als unqualifizierte Arbeit und wurde sowohl in Unternehmen als auch in Heimarbeit grossmehrheitlich von Frauen ausgeübt. Männer traten in der Leuchtfarbenbranche fast ausschliesslich als Arbeitgeber in Erscheinung. Die geschlechtsspezifische Aufteilung erstreckte sich auf fast alle Tätigkeitsfelder der Schweizer Uhrenindustrie, indem die qualifizierten und angesehenen Arbeiten meistens von Männern ausgeführt und die als unqualifiziert geltenden Arbeiten Frauen zugewiesen wurden. Obwohl die eidgenössischen Behörden und die Suva das Gefährdungspotenzial der radioaktiven Leuchtfarben aufgrund zahlreicher radiuminduzierter Todesfälle von US-amerikanischen Leuchtfarbensetzerinnen seit der Mitte der 1920er Jahre kannten, wurde die Radiumverwendung erst in den 1960er Jahren einer wirksamen legislativen Regulierung unterworfen. Abgesehen von der Aufnahme des Radiums in die sogenannte „Giftliste“ im Jahr 1927 blieben der Bund und die Suva im Hinblick auf den Schutz der Arbeitnehmenden vor ionisierenden Strahlen bis in die 1950er Jahre weitestgehend untätig. Ein Transfer des Expertenwissens beziehungsweise eine transparente Aufklärung der Arbeitgeber_innen und der Arbeitnehmer_ innen über das Gefährdungspotenzial der Radiumleuchtfarben fand nicht statt. Erst im Zuge des Sensibilisierungsprozesses für die Gefahren der Radioaktivität nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der Schutz der Arbeitnehmer_innen vor ionisierender Strahlung langsam ins Blickfeld der eidgenössischen Behörden und die Unterschätzung des Gefährdungspotenzials wich sukzessive der Feststellung, dass Handlungsbedarf auf eidgenössischer Ebene bestehe. Obwohl der Schutz der Arbeitnehmenden vor ionisierenden Strahlen ab den 1950er Jahren von den Bundesbehörden – insbesondere vom Eidgenössischen Gesundheitsamt, vom Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) und dem Arbeitsärztlichen Dienst sowie vom Eidgenössischen Fabrikinspektorat – und der Suva aktiv vorangetrieben wurde, scheint der Arbeitsschutz anfänglich nur als untergeordnetes Ziel verfolgt worden zu sein. Die gewichtigsten Akteur_innen im langjährigen Aushandlungsprozess zur legislativen Regulierung der Nutzung der Radioaktivität beziehungsweise der ionisierenden Strahlen waren Interessenvertreter der Armee, der Forschung, der Medizin, der Wirtschaft und der Politik. Der Schutz der Arbeitnehmenden vor gesundheitsgefährdenden Stoffen wurde den wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeberseite – und im Beispiel der Radioaktivität auch den Interessen der Forschung, der Medizin und des Bundes – gegenübergestellt und diesen nicht selten untergeordnet. Die Masterarbeit zeigt anhand des Umgangs mit Radium exemplarisch auf, dass zwischen der Feststellung des Gefährdungspotenzials eines Stoffes und dessen legislativer Regulierung bisweilen ein langwieriger Aushandlungsprozess liegt.

Accesso al lavoro

Biblioteca

I lavori accademici sono depositati nella biblioteca dell'università competente. Cerca l'opera nel catalogo collettivo delle biblioteche svizzere