Beten, Beobachten, Berichten - Textgenetische und klimage- schichtliche Auswertung des Einsiedler Kloster-Tagebuchs von Pater Joseph Dietrich, 1670-1704

Cognome dell'autore
Lukas
Heinzmann
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Christian
Rohr
Co-direttore
PD Dr. Thomas Wallning (Universität Wien)
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2023/2024
Abstract

Ein symbolischer Spatenstich am 31. März 1704 markierte den Beginn für die offiziellen Arbeiten am barocken Neubau des Klosters Einsiedeln, dessen Stiftskirche mit der prunkvollen Westfassade, dem aufwändig gestalteten Innenraum und der Gnadenkapelle mit der Schwarzen Madonna noch heute jährlich tausende Pilger:innen und Besucher:innen anzieht. Fast zeitgleich mit diesem für das Stift so bedeutenden Moment endete die Arbeit am 18-bändigen Einsiedler Kloster-Tagebuch der Jahre 1670 – 1704, dessen unermüdlicher und akribischer Verfasser, Pater Joseph Dietrich (1645 – 1704), am 5. April 1704 im Kloster Fahr nach kurzer Krankheit verstorben war. Das rund 12'000-seitige Manuskript, in welchem der Mönch während mehr als dreissig Jahren seine täglichen Beobachtungen festgehalten hatte, ist nicht nur das Zeugnis eines individuellen Werdegangs, sondern gibt auch Aufschluss über die Ereignisse auf dem weitreichenden Stiftsgebiet und ist vor allem vor dem Hintergrund der klimatischen Kaltphase des Late Maunder Minimum (1675–1715) eine bedeutende Quelle für klimageschichtliche Forschungsfragen.

Das Manuskript bildet den Gegenstand des Projekts „Das Kloster-Tagebuch des Einsiedler Paters Joseph Dietrich, 1670 – 1704. Kommentierte Online-Edition“, in dessen Rahmen das umfangreiche Werk vollständig ediert und Open Access (https://www.dietrich-edition.unibe.ch) veröffentlicht wird. Als Teil des Projekts widmete sich die Dissertation zum einen klassischen Fragen der Quellenkritik, um eine Grundlage für die Edition sowie potenzielle weitere Forschungsvorhaben zu schaffen. Da die Entstehung des umfangreichen Werks eng mit dem Werdegang des Autors verbunden war, erforderte dies eine Auseinandersetzung mit dessen Laufbahn, mit den benediktinisch-monastischen Leitprinzipien und der Stiftsgeschichte des Klosters Einsiedeln. Die Textgenese des Schriftzeugnisses erwies sich zudem als vielschichtiger und dynamischer als ursprünglich angenommen, weshalb Ansätze aus der Tagebuchforschung für die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte herangezogen wurden. Ein zweiter Schwerpunkt lag auf der Erschliessung der rund 6'000 täglichen Natur- und Wetterbeobachtungen, die unter anderem für eine Publikation in der Online-Datenbank Euro-Climhist (https:// www.euroclimhist.unibe.ch) aufbereitet wurden. Die Auswertung in der Dissertation fokussierte sich auf den Beobachtungsstil und die Naturwahrnehmung des Autors.

Dietrich stammte aus einer Familie, die zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Elite der Kleinstadt Rapperswil gehörte. Nachdem er im Jahr 1661 im Stift Einsiedeln seine Profess abgelegt hatte, erlangte er Ende des Jahres 1669 mit der Priesterweihe den Status eines Vollmitglieds. Der Beginn des Einsiedler Kloster-Tagebuchs im Juli 1670, der von Pater Friedrich Helmlin (†1687) initiiert wurde, fällt zeitlich mit dem Tod von Abt Plazidus Reimann (1594–1670) zusammen. Wenige Monate später übernahm Dietrich die Arbeit am Diarium, welche er bis zu seinem Lebensende eigenständig fortsetzte. In den ersten zehn Jahren erfolgten die Einträge jedoch nur sporadisch und unregelmässig, womit der Umfang der Beschreibungen für diese Zeitspanne vergleichsweise knapp ausfällt.

Dies änderte sich mit dem Einsiedler Dorfbrand am 20. Dezember 1680, infolgedessen Dietrich in die Kommission für den Wiederaufbau berufen wurde und gleichzeitig mit dem Amt des Stiftsstatthalters eine Schlüsselposition im Kloster übertragen bekam. In letztgenannter Funktion, die er bis 1688 innehatte, war er für die Organisation der klösterlichen Versorgung sowie die Vertretung der Herrschaftsrechte gegen aussen zuständig, womit er auch sein soziales Netzwerk ausserhalb des Klosters stark erweitern konnte. Zudem verfügte er im Stift über einen besseren Informationszugang und tendierte nun dazu, sein Wissen und seine persönlichen Erlebnisse regelmässiger und  ausführlicher im Tagebuch festzuhalten. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch bei den Natur- und Wetterbeobachtungen, deren Erwähnung sich bis 1679 auf wenige ausserordentliche Phänomene, wie das Erscheinen von Himmelskörpern oder das Auftreten witterungsbedingter Schadensereignisse, beschränkte. Ab 1680 ging Dietrich nämlich zu intermittierenden Beobachtungen über, wobei er neben längeren Witterungsphasen auch häufiger das tägliche Wetter thematisierte.

Ende des Jahres 1688 erfolgte Dietrichs Versetzung ins Schloss Freudenfels (Thurgau), von wo aus er als Statthalter die klösterlichen Besitzungen in der Umgebung verwaltete. War Dietrich bis dahin Teil einer rund100-köpfigen Klostergemeinschaft, fand er sich im Schloss Freudenfels als Verantwortlicher einer kleinen Hausgemeinschaft wieder. Die Versetzung bedeutete folglich eine tiefgreifende Veränderung seines Umfelds und seiner Lebensweise, was sich auch im Tagebuch niederschlug. Im Gegensatz zu Einsiedeln, wo er die Geschehnisse meistens als scheinbar neutraler Beobachter in der dritten Person schilderte, begann er in Freudenfels konsequent aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Dieser Perspektivenwechsel ist auch charakteristisch für die späteren Bände. Der Diarist wechselte nämlich im Zeitraum von 1688–1704 insgesamt achtmal den Standort, wobei er sich neben Einsiedeln und Freudenfels auch in Pfäffikon (Schwyz) und im Kloster Fahr (Aargau) aufhielt.

Ein wesentlicher Grund für die vielen Versetzungen war das angespannte Verhältnis zu Abt Raphael Gottrau (1647–1707), welcher Dietrich bei den Abtwahlen im März 1692 um wenige Stimmen übertroffen hatte und in Stiftsangelegenheiten häufig eine konträre Position zum Diaristen einnahm. In dieser Phase finden sich im Tagebuch zahlreiche Belege dafür, dass Dietrich die Meinungsverschiedenheiten und die häufigen Standortwechsel ebenso mental belasteten wie die zunehmenden körperlichen Beschwerden, infolge derer er zeitweise seine Pflichten nicht ausführen konnte. Es ist wahrscheinlich, dass unter anderem die Differenzen mit dem Abt den Diaristen veranlassten, seine Dokumentationstätigkeit zu intensivieren, um sich gegen allfällige Vorwürfe zu schützen. Im Mai 1693 ging er nämlich zu einer beinahe lückenlosen Beschreibung der täglichen Ereignisse über, die er bis zu seinem Tod fortsetzte.

 

Mit diesem Übergang zur täglichen Berichterstattung nahm auch die Frequenz der Natur- und Wetterbeschreibungen zu, sodass ab Januar 1694 eine fast lückenlose Witterungsbeobachtung erfolgte, was auch auf die übrige Tagebuchführung zurückwirkte. So bestehen phasenweise die Beschreibungen an ereignisarmen Tagen ausschliesslich aus der Beobachtung des Wetters. Im Weiteren wirkte sich die gesteigerte Beobachtungstätigkeit auf die Strukturierung der Informationen aus. Während sich im Zeitraum von 1671 – 1693 weniger als die Hälfte der Natur- und Wetterbeobachtungen zu Beginn eines Eintrags befinden, begann Dietrich ab Januar 1694 fast alle Tagebucheinträge mit einer Schilderung des Wetters, wobei er die wechselnden Wetterbedingungen oft mehrmals am Tag notierte. Trotz standortbedingter Unterschiede lässt sich feststellen, dass der Diarist ab Januar 1694 auch ein spezifischeres Vokabular für die Beschreibung des Wetters verwendete. Dabei fokussierte sich der Autor insbesondere auf die Beschreibung des atmosphärischen Geschehens.

In den 1690er Jahren führten eine Reihe von Missernten zusammen mit handelspolitischen Res- triktionen zu einer Subsistenzkrise auf dem Gebiet der Zentral- und Nordostschweiz, welche auch das Kloster betraf. Als möglicher Grund für den Übergang zum täglichen Beobachten kommt deshalb infrage, dass Dietrich wegen einer Häufung an witterungsbedingten Ernteausfällen ein vertieftes Verständnis des Kausalzusammenhangs zwischen Witterung und Ernteertrag zu finden suchte. Für diese These spricht eine Eigenaussage des Autors im Februar 1694, in der er den Vorsatz der täglichen Beobachtung damit begründete, dass er Prognosen zur Weinernte vornehmen wolle. Trotz dieses Vorsatzes folgte im Tagebuch jedoch weder eine rückblickende Synthese des Wachstumsverlaufs noch eine konkrete Prognose zum Ernteertrag. Dies ist typisch für Dietrichs Beobachtungsstil, da sich der Autor – vor allem in Bezug auf Ernteerträge – stärker auf das Beschreiben als auf das Deuten und Prognostizieren fokussierte. Allerdings lässt sich mit dem Übergang zum täglichen Beobachten feststellen, dass der Diarist damit begann, in spielerischer Manier die Verlässlichkeit von Bauernregeln zu prüfen und zumindest für das atmosphärische Geschehen des nächsten Tages öfters Vorhersagen wagte.

Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seiner schwachen Konstitution trat Dietrich ab 1698 schrittweise von seinen administrativen Ämtern zurück und war nicht mehr im selben Mass wie früher in die Kerngeschäfte des Stifts verwickelt.

In der Folge fielen auch seine Beschreibungen im Tagebuch weniger umfangreich aus. Mitte des Jahres 1701 wurde er schliesslich zum Beichtvater im Kloster Fahr ernannt. Dort war er nur noch am Rande in administrative Belange involviert und konnte der Beobachtung des Wetters viel Zeit widmen, bevor er am 5. April 1704 verschied.

 

Publikation: https://schwabe.ch/lukas-heinzmann-beten-beobachten-berichten-978-3-796…

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