Ökonomie in der Werkstatt? Das Wirtschaften und Haushalten St. Galler Handwerkerfamilien im 17. und 18. Jahrhundert

Cognome dell'autore
Nicole
Stadelmann
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
André
Holenstein
Co-direttore
Prof. Dr. Stefan Sonderegger
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2020/2021
Abstract
Die Stadt St. Gallen wird aufgrund des weltumspannenden Handels ihrer Textilkaufleute in der historischen Forschung vorwiegend als reiche Handelsstadt beschrieben. Diese reiche Elite prägt auch die geschichtliche Forschung zur Stadt. Zum Leben und Auskommen der Mehrheit der St. Galler und St. Gallerinnen – der Handwerkerfamilien – besteht dagegen eine Forschungslücke. Zwei Drittel der Bürgerschaft St. Gallens waren nämlich in der handwerklichen Produktion tätig. Ziel der Studie ist es, das Wirtschaften und Haushalten der St. Galler Handwerkerfamilien im 17. und 18. Jahrhundert zu untersuchen. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei nicht isoliert die männlichen Handwerksmeister als Werkstattleiter, sondern die handwerklichen Familienökonomien. Gleichzeitig nimmt die Untersuchung die gesamte städtische Produktion, also sowohl die zünftige wie auch die ausserzünftige Wirtschaft, in den Blick. Dadurch wird die Arbeit der Ehefrauen und Töchter überhaupt erst sichtbar. Konzeptionell nimmt die Untersuchung Impulse aus der Forschung zur Protoindustrialisierung, der Geschlechter-, Familien-, Haus- und Prekariatsgeschichte sowie aus der jüngeren städtischen Handwerks- und Gewerbegeschichte auf. Das Forschungskonzept der Untersuchung basiert auf zwei Ebenen: einer qualitativen und einer quantitativen. In einer prosopographischen Datenbank wurden Steuerbücher und Bürgerregister quantitativ ausgewertet und damit 3238 Stadtbürger erfasst, die zwischen 1680 und 1731 steuerpflichtig waren. Damit wird die sozioökonomische Verortung der Handwerkerfamilien St. Gallens im untersuchten Zeitraum möglich. Im zweiten, analytischen Hauptteil werden die Angaben aus der Datenbank mit einer alltags- und mikrohistorischen Untersuchung von sechs ausgewählten, gut dokumentierten Handwerkerfamilien verknüpft. Die Handwerker reagierten mit unterschiedlichen Strategien auf das sie umgebende ökonomische Milieu. Herausgearbeitet werden konnten drei unterschiedliche Muster handwerklicher Ökonomien, die im 17. und 18. Jahrhundert parallel existierten. Die Übergänge zwischen diesen einzelnen Mustern waren in der Realität fliessend und keineswegs statisch. Allen drei Typen ist die Diversifizierung der Einkommensstruktur gemein, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen. Der erste Typ handwerklicher Wirtschaft war geprägt von Pluriaktivität, Lohnarbeit und räumlicher Mobilität. Einzelpersonen und Familienmitglieder gingen gleichzeitig verschiedenen wirtschaftlichen Tätigkeiten nach. So stammten die Einnahmen dieser Haushalte meist aus mehreren ganz unterschiedlichen Quellen. Vor allem Ehefrauen und Töchter verdienten dabei häufig als Lohnarbeiterinnen in der ausserzünftigen Wirtschaft unabhängig von ihren Ehemännern und Vätern Geld. Der Bereich der ausserzünftigen Wirtschaft bot diesen Familien Möglichkeiten, mehrere Handwerke miteinander zu kombinieren. Lohnarbeit und selbstständige Produktion existierten dabei parallel und wurden kombiniert mit weiteren Tätigkeiten. Extrem hohe Mobilität in einem umfassenden, das heisst nicht nur in einem räumlichen, sondern auch in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sinn zählte neben der Lohnarbeit zu den Charakteristika dieses Typs. Der zweite Typ handwerklichen Wirtschaftens reagierte ebenfalls flexibel auf die ökonomischen Rahmenbedingungen. Im Unterschied zum ersten Typ besassen Handwerkerfamilien des zweiten Typs aufgrund ihrer grösseren Vermögenswerte mehr Spielraum, um ihre Ökonomien zu diversifizieren. Charakteristisch für das zweite Muster handwerklicher Wirtschaft waren gut laufende Familienbetriebe, die Arbeit der Ehefrauen und Töchter in der Familienwerkstatt, Mitgliedschaften in gewerblichen Zünften, Auflehnung gegen zünftige Beschränkungen der Produktionskapazitäten, ausgeprägte Kredit- und Beziehungsnetzwerke zu reichen Stadtbürgern, Land- und Immobilienbesitz sowie der Verzicht auf Lohnarbeit und auf die fehlende freiwillige Migration anlässlich und nach der Heirat. Der dritte Typ handwerklicher Ökonomie ähnelte jenem des zweiten Typs stark. Die Diversifizierungsstrategien waren dieselben. Hinzu kam allerdings ein höheres soziales Kapital, das entweder auf der Ausübung eines Ehrenamtes basierte oder mit der grundlegenden Verlagerung des Arbeitsalltags hin zum Handwerksverlag und zum Handel einherging. Diese eigentlichen „Herren“ im Handwerk zählten zur höchsten Gruppe innerhalb des „Handwerkerstands“. Sie waren Zunftvorstände, Ratsmitglieder oder Handwerksverleger, die andere die Handarbeit erledigen liessen und sich selbst mit Buchhaltung, der Organisation des Verlags und dem Verkauf ihrer Produkte beschäftigten. Auch hier wurde auf Lohnarbeit und Migration verzichtet. Die Strategie, wie Handwerker in einer Wirtschaft der Knappheit und in einer zunftverfassten Stadt ihren Alltag bestritten, liegt – das kann die Studie zeigen – in der Mobilität, Diversifikation und anpassungsfähigen Familienwirtschaft. Der Fokus auf eine offene Familienwirtschaft ermöglichte es, diese flexiblen handwerklichen Ökonomien zu erfassen, da damit nicht nur einzelne Handwerker, sondern ganze Haushalte ins Zentrum der Untersuchung rückten. Die handwerklichen Familienökonomien kombinierten Selbstständigkeit mit Lohnarbeit, ausserzünftige mit zünftiger Wirtschaft und handwerkliche Produktion mit Handel, Bewirtung und Landwirtschaft. Der Beitrag der Arbeit zur deutschsprachigen Handwerks- und Zunftforschung liegt in der Zusammenführung der zünftigen und ausserzünftigen Produktion. Dadurch wird eine Dichotomisierung zwischen Zunftwirtschaft und der oft marginalisierten Form der ausserzünftigen Produktion vermieden und stattdessen eine ganzheitliche Sichtweise eingenommen. Beide Bereiche waren eng verwoben und sind im handwerklichen Alltag kaum voneinander zu trennen. Nur mit dieser Zusammenführung wird auch die Arbeit der Frauen in der Produktionssphäre, die keinesfalls unbedeutend war, sicht- und untersuchbar. Die mikrohistorische Analyse der einzelnen Akteure und Akteurinnen leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Frauen- und Geschlechtergeschichte in einem Bereich, der zu den Forschungsdesideraten zählt: Die Arbeit verheirateter Frauen und lediger Töchter in der handwerklichen, frühneuzeitlichen Produktion. Für die Regionalgeschichte und die Stadtgeschichte von Interesse ist der Befund, dass der Anteil der Handwerker an der Gesamtbevölkerung sehr hoch war und auch in einer zunftverfassten Stadt ein grosser Teil der Produktion im bislang nicht beachteten ausserzünftigen Sektor stattfand. Dies erweitert die Perspektive der bisherigen Forschung, welche St. Gallen einerseits allzu stark als Stadt von Textilhändlern betrachtet, andererseits die unterschiedlichen Ausprägungen von gewerblichen Zünften nicht beachtet und diese mit den politischen Zünften gleichsetzt. Auf der Ebene der allgemeinen Geschichte ist das Ergebnis hervorzuheben, dass Handwerkswirtschaft stark Familienwirtschaft war, in der Väter, Mütter, Söhne und Töchter mitarbeiteten. Zu den hervorstechendsten Charakteristiken gehörte eine hohe geografische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Mobilität und Agilität.

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