Der 1997 veröffentlichte Eizenstat-Bericht warf der im Zweiten Weltkrieg neutralen Schweiz vor, sie habe mit ihrer Handels- und Finanzpolitik das Dritte Reich unterstützt und dadurch zur Verlängerung des Krieges beigetragen. Diese These rief in der Schweizer Öffentlichkeit Empörung hervor. War die Schweiz als Handelspartner tatsächlich von entscheidender Bedeutung für die deutsche Kriegsführung?
Im Gegensatz zu den wenigen bisherigen Studien über die deutsch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen während des Zweiten Weltkrieges konzentriert sich diese Arbeit auf die deutsche Perspektive. Wie haben die deutschen politischen und militärischen Stellen die handelspolitische Bedeutung der Schweiz eingeschätzt, und welche Rolle spielten die Warenlieferungen für die deutsche Kriegsproduktion unter den Bedingungen des "totalen" Krieges ab 1943? In drei Teilen werden die deutschen Planungen zur Ausnutzung der europäischen Volkswirtschaften dargestellt, die Interessen in den bilateralen Wirtschaftsverhandlungen mit der Schweiz analysiert und die wichtigsten Warenlieferungen in ihrer Bedeutung für die deutsche Rüstungsproduktion quantitativ und qualitativ untersucht. Die Arbeit stützt sich auf gedruckte Quellen der verschiedenen Machtzentren aus Politik, Militär und Wirtschaft sowie auf die bestehende Literatur. Zeitlich setzt die Studie 1943 ein, als die nationalsozialistische Führung angesichts der prekären militärischen und rüstungswirtschaftlichen Lage den „totalen" Krieg ausrief. In den ersten Kriegsjahren war die schweizerische Volkswirtschaft erfolgreich in die deutsche Kriegsproduktion eingebunden worden. Die deutschen Ministerien bezeichneten die Schweiz als wirtschaftlich beherrscht. Mit den militärischen Niederlagen des Reichs Anfang 1943 kam die Schweiz immer stärker unter Druck der Alliierten, die einen Abbau der Warenlieferungen forderten. Dem standen die Pläne des Rüstungsministeriums diametral gegenüber, das zur Erfüllung der neuen Rüstungsprogramme die Aufträge an die Schweizer Industrie verdoppeln wollte. Die Wehrmacht mass den Lieferungen „grössten Wert'' zu. Die Schweizer Regierung kontingentierte jedoch Mitte 1943 die Exporte.
Die deutschen Ministerien waren „aufs höchste" bemüht, den Handel mit der Schweiz wieder in Gang zu bringen, es fehlte aber an griffigen Konzepten. Wehrmacht und Rüstungsminister Speer w ollten die Schweiz auf dem Weg eines Handelskrieges zu Konzessionen zwingen, Hitler persönlich befahl jedoch ein nachsichtiges Vorgehen. Ende 1943 erklärten die Ministerien die offiziellen Wirtschaftsverhandlungen für gescheitert und versuchten deshalb in direkten Kontakten zu Schweizer Unternehmern und Spitzenverbänden zum Erfolg zu gelangen. Nach weiteren Kontingentierungen verloren die Warenlieferungen an Bedeutung, und im Herbst 1944 erliess der Bundesrat ein Ausfuhrverbot für Kriegsmaterial. Die deutschen Stellen konzentrierten sich vermehrt auf die „unsichtbaren" Dienste der Schweiz; die Gold- und Devisengeschäfte sowie die Transitfrage rückten in den Vordergrund. Zur Absicherung dieser Geschäfte wollte die deutsche Regierung einen Abbruch der Handelsbeziehungen bis Kriegsschluss vermeiden und setzte die Rohstofflieferungen an die Schweiz fort.
Den einzelnen Warenlieferungen kam für die deutsche Rüstungsproduktion unterschiedliche Wichtigkeit zu: Während die Importe von Schweizer Kriegsmaterial wie Waffen oder Zünder bereits 1942 zurückgingen und ihre quantitative Bedeutung mit einem halben Prozent an der deutschen Eigenproduktion sehr gering war, spielten die Werkzeugmaschinen, Präzisionswerkzeuge und Kugellager eine zentrale Rolle für die deutsche Rüstung. Die Wehrmacht war auf Spezialmaschinen wie zum Beispiel Fräsmaschinen, die sich teilweise nur in der Schweiz beziehen liessen, besonders angewiesen. Die Schweiz war im Krieg die grösste Lieferantin von Maschinen: Jede dritte im Reich produzierende Spezialmaschine stammte aus ihrer Produktion. Die Importe von Schweizer Aluminium gingen ab 1942 quantitativ zurück, blieben aber weiterhin von Bedeutung für den Bau von Kampfflugzeugen, und die Tochterfirmen der schweizerischen Aluminiumindustrie produzierten in Süddeutschland bis Kriegsende einen Fünftel des deutschen Gesamtausstosses. Als wichtigsten Beitrag an die deutsche Rüstungsfertigung erachtete Speer jedoch den Import von elektrischer Energie, der im Gegensatz zu den anderen Lieferungen bis kurz vor Kriegsende 1945 weiterging.
Die Bedeutung, die Ministerien und Wehrmacht in ihren Aussagen den Schweizer Exporten wiederholt beimassen, weist auf ihren wesentlichen Beitrag zur Kriegsführung hin. Spezifische Posten wie Werkzeugmaschinen, Bohrern oder Zündern waren besonders wichtig. Ohne sie konnten bestimmte Rüstungsgüter nicht oder nur bedingt hergestellt werden. In quantitativer Hinsicht spielten die Zulieferungen jedoch nur eine marginale Rolle: Mit rund 1,35 Mrd. Franken betrug ihr Anteil an der deutschen Kriegsproduktion lediglich 0,6%. Rüstungsminister Speer erklärte mehrmals, er könne notfalls auf die Schweizer Lieferungen verzichten. Die Warenlieferungen aus der Schweiz trugen also zwar zur Steigerung der deutschen Produktivität bei, sie verloren aber bereits Ende 1943 an Bedeutung. Eine generell „kriegsverlängernde" Wirkung der Schweizer Lieferungen kann nicht festgestellt werden. Sie lässt sich denn auch nicht belegen, weil viel zu viele unbekannte, auch nicht-ökonomische Variabeln für die Dauer des Krieges verantwortlich waren. Es lässt sich aber festhalten, dass sich die Schweizer (Handels-)Politik keineswegs aktiv für eine Verkürzung des Krieges einsetzte. Im Herbst 1944, als die alliierten Truppen an der Schweizer Grenze standen, wäre ein Abbruch der Handelsbeziehungen möglich gewesen.