Zwischen Ancien régime und Moderne. Die Walliser Adelsfamilie von Werra

Cognome dell'autore
Wilfried
Meichtry
Tipo di ricerca
Dottorato
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Beatrix
Mesmer
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
1998/1999
Abstract

Der aus einer angesehenen, aber verarmten alten Walliser Familie stammende Ferdinand von Werra (1770-1824) verdankte seinen Aufstieg einer Heirat und einer grossen Erbschaft in Wien. Seine guten Beziehungen nach Österreich brachten ihm 1806 den Freiherrentitel ein, worauf er sich in Leuk zwei stattliche Herrenhäuser erbauen liess und bis zu seinem Tod zu den reichsten Männern im Wallis gehörte. Hundert Jahre später war das grosse, vorwiegend aus Grundbesitz bestehende Vermögen der Familie aufgebraucht. Die im Wallis verspätet einsetzende Industrialisierung und zunehmende Mone-tarisierung der Sozialbeziehungen führte dazu, dass sich der auf Autarkiewirtschaft und Prestige ausgerichtete Landwirtschaftsbetrieb von Baron Leo II. - in seinem Habitus noch ganz Seigneur und an der vorindustriell-ständischen Gesellschaftsordnung orientiert - als nicht ertragreich genug erwies. Trotz verschiedener Versuche des Barons, sich als industrieller Unternehmer und Erfinder (20 Patente) an die neue Zeit anzupassen, zwang ihn die fehlende Liquidität zu einer immer mehr ausufernden Kreditaufnahme, was zu einem Konflikt mit seinen nahen Verwandten führte. Das 1910 gegen ihn eingeleitete Konkursverfahren, gegen das er sich über zwanzig Jahre mit allen rechtlichen Mitteln (40 Urteile) zur Wehr setzte, führte zur vollständigen Verarmung seiner siebenköpfigen Familie.

 

Die materielle Not der Baronsfamile führt im Jahr 1915 dazu, dass Leo II. und seine Frau die beiden jüngsten Kinder, die knapp vierjährige Emma-Charlotte und den fünfzehn Monate alten Franz, zu der Adoption freigeben. Ein kinderloses deutsches Ehepaar - die deutsch-jüdische Baronin Louisa von Haber und der preussische Major Oswald Carl - nimmt die Kinder bei sich auf, verschweigt ihnen aber ihre wahre Herkunft. Nach feudalen Kindheits- und Jugendjahren erleben Emma-Charlotte und Franz im Jahre 1932 den zweiten Milieu-Zusammenbruch ihres Lebens: Die Familie ist finanziell ruiniert, die Eltern trennen sich, Emma-Charlotte und Franz stehen auf der Strasse, erfahren von ihrer wahren Herkunft. Der achtzehnjährige Franz reagiert auf den Zerfall seiner Familie mit einem Ausbruch und kommt als blinder Passagier und Schiffsjunge bis nach Amerika. Emma-Charlotte beginnt sich immer stärker der Religion zuzuwenden.

 

Die deklassierten von Werra-Geschwister entwickeln nach dem Zusammenbruch des Adoptivelternhauses nicht nur eine enge Beziehung, sondern streben gemeinsam einen schnellen Wiederaufstieg an. Franz sieht in der militärischen Laufbahn im Dritten Reich die beste Möglichkeit dazu und in der Fliegerei eine Form des modernen Rittertums. Emma-Charlotte, die als Sekretärin arbeitet, unterstützt ihren Bruder finanziell und emotional als Mutterersatz. Beide setzen sie auf den Nationalsozialismus als Vehikel zur Erreichung ihres gemeinsamen Ziels. Im Jahre 1935 sucht Emma- Charlotte erstmals ihre Eltern in Leuk auf, an die sie im Laufe der Jahre wieder Anschluss findet und bei der sie Sympathien für den Nationalsozialismus und Hoffnungen auf eine späte Rehabilitierung durch die nationalsozialistische Justiz weckt. 

Zu einer international bekannten Persönlichkeit wird Franz von Werra im Sommer 1940 als erfolgreicher Jagdflieger und durch seine Flucht aus der englischen Kriegsgefangenschaft, die im Januar 1941 durch die Weltpresse geht. Diese von den deutschen Auslandsvertretungen gedeckte Flucht des nach Kanada verlegten Ausbrechers über New York und Südamerika zurück nach Deutschland, wo Franz von Werra von Hitler persönlich empfangen wird, gibt 1956/57 Anlass zu einem Buch und dem international bekannten englischen Spielfilm „The one that got away“ (mit Hardy Krüger als Franz von Werra). Der tödliche Absturz von Franz von Werra im Oktober 1941 bringt auch das Ende der Aufstiegshoffnungen von Emma-Charlotte von Werra. Noch im Krieg wird sie Rotkreuzschwester und kehrt nach dem Zusammenbruch von Deutschland und dem Tod ihrer Adoptivmutter in die Schweiz zurück, wo sie erst als Psychiatrieschwester im Kanton Bern arbeitet und nach ihrer Pensionierung im Jahre 1970 nach Leuk zurückkehrt, wo sie 1992 stirbt. 

Forschungsschwerpunkte

Das chronologisch an der Biografie von Emma-Charlotte und Franz von Werra orientierte Vorgehen der Recherchen bestimmte den Aufbau dieser Arbeit. In ihr unternehme ich einerseits den Versuch, das Leben von Emma-Charlotte und Franz von Werra sowohl in seinen zeitgeschichtlich-historischen als auch in seinen alltags- und sozialgeschichtlichen Rahmen einzubetten, andererseits bemühe ich mich darum, den mentalitäts- und psychohistorischen Hintergrund ihrer Biografie zu reflektieren. Da die Lebensgeschichte von Franz und Emma-Charlotte eng mit der Verarmung ihres Eltern- und Adoptivelternhauses verbunden ist, frage ich in meiner Arbeit auch nach den Gründen des Niedergangs der Adelshäuser von Werra und Carl-von Haber. Hinter dem biografisch-historischen und familiengeschichtlichen Ansatz dieser Arbeit steht die durchgehende Fragestellung: Wie hat sich über zwei Generationen hinweg die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf die alten feudalen Eliten ausgewirkt; welche Wertordnung und Verhaltensmuster haben ihre Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft behindert, welche Rolle spielte dabei der Katholizismus? Von ihrer Problematik her befasst sich die Arbeit mit dem Übergang vom Ancien Régime in die Moderne und zeichnet die ökonomischen, habituellen und individuellen Anpassungsschwierigkeiten verschiedener Protagonisten nach. Der Niedergang der Leuker Baronsfamilie von Werra, der Abstieg von Louisa von Haber, aber auch die Abenteuerkarriere des Franz von Werra und der Rückzug von Emma-Charlotte ins „weltliche Kloster“ der Krankenpflege stellen gewiss Extremfälle einer misslungenen Adaption dar, gerade deshalb eignen sie sich jedoch als Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Diskussion dieser Fragen. 

An der Doppel-Biografie der von Werra-Geschwister lässt sich weiter veranschaulichen, wie der Faschismus als Auffangbecken für Absteiger und Abenteurer funktionierte, wie Männerphantasien mit der Fliegerei verbunden wurden und wie Frauen im Fall des Scheiterns nur enge Handlungsspielräume verblieben. Im Falle von Franz von Werra war es für mich weiter auch von Interesse, Konstruktion und Tradierung von Heldenbildern und Legenden zu untersuchen. 

 

Accesso al lavoro

Biblioteca

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