Die Lizentiatsarbeit analysiert den Briefwechsel zwischen der Luzerner Patrizierin Anna Maria Rüttimann (1772-1856) und dem Zürcher Politiker Paul Usteri (1768-1831) nach ihrer Bekanntschaft im Frühjahr 1799 in Bern. Rüttimann und Usteri, ein Gesinnungsfreund ihres Mannes Vinzenz Rüttimann, entstammten der politisch-kulturellen Elite des Ancien Régimes, die beim Ausbruch der Helvetischen Revolution 198 den Reformgeist der sogenannten Republikaner teilte. Mit ihren Idealen einer repräsentativen Republik verkörperten sie die intellektuelle Führungsschicht liberaler Gesinnung, die sich vorwiegend aus der städtischen Oberschicht der Alten Eidgenossenschaft rekrutierte. Usteri und Rüttimann besuchten die „guten Gesellschaften“ ihrer Vaterstädte, in denen sich unter Einbezug der Frauen die regierenden Familien zusammengesellten, um über Literatur, Kunst und Politik zu debattieren. Die Untersuchung beschränkt sich auf den Zeitraum seit Beginn ihrer Korrespondenz bis zum Ende der Helvetik.
Im Vordergrund der Fragestellung steht das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie dessen Neugestaltung im Umbruch zwischen Ancien Régime und der ersten modernen bürgerlichen Verfassung. Die Beseitigung der Aristokratie hatte nicht nur Auswirkungen auf das politische System, sondern auch auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf die Geschlechterordnung im Besonderen. Hatten Aristokratinnen aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit vor der Revolution noch einen Sonderstatus in der Gesellschaft inne, mussten sie sich als Folge der Umwälzungen von ihren Privilegien verabschieden. In der Quellenanalyse des Briefwechsels zwischen Anna Maria Rüttimann und Paul Usteri stellt sich nun die Frage, mit welchem Selbstverständnis die Patrizierin als Angehörige sowohl der alten, als auch neuen Elite an diesem Wandel teilnahm. Welche Gedanken machte sie sich zu den Handlungsräumen von Frauen und Männern? Darauf aufbauend wird die Korrespondenz in den Kontext der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert eingeordnet. Da die helvetische Verfassung allein die Staatsbürgerrechte der Männer einführte, stellt sich die Frage, wie Anna Maria Rüttimann den Ausschluss ihres Geschlechts von politischen Entscheidungsprozessen beurteilte und welche Möglichkeiten zur Mitsprache in politischen Angelegenheiten den Frauen offen standen. Die Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Politik auf der einen, Privatsphäre und Familie auf der anderen Seite wird am Beispiel der Patrizierin Rüttimann kritisch hinterfragt.
In der Quellenanalyse erwies sich Anna Maria Rüttimann, welche die politischen Vorkommnisse pointiert kommentierte, als begehrte Gesprächspartnerin Usteris. Dabei vermittelte sie auch in der Verfassungsdiskussion ihrer Gesinnungsfreunde, schätzte die Befähigungen helvetischer Politiker ein und sprach Empfehlungen für die Besetzung politischer Ämter aus. Zudem stellte sich heraus, dass die Luzernerin am Gelingen der politischen Karriere ihres Mannes Vinzenz Rüttimann eifrig mitwirkte. Der Zürcher schätzte Rüttimanns Beobachtungsgabe, die für ihn auf ihrem „Weiber Instinkt“ basierte. Mit ihrer geschlechtlich konnotierten Emotionalität und ihrem „natürlichen“ Moralempfinden konnte sie eine Perspektive anbieten, die dem „räsoniernden“ Usteri verschlossen zu sein schien.
Schliesslich wurde die Schwierigkeit deutlich, eine klare Trennung von öffentlich-politischer und privat-familiärer Sphäre zur Zeit der Helvetik zu beschreiben. Das Beispiel von Anna Maria Rüttimann zeigt, wie wenig politische Partizipation um 1800 formalisiert war. Obwohl Frauen von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wurden, nutzte die Luzerner Patrizierin die ihr zugänglichen Kanäle, um informellen Einfluss – wenn auch beschränkt – auf das politische Geschehen auszuüben. Die Mobilisierung von politischen Gesinnungsfreunden über gesellige Zusammenkünfte und Briefe war eine Grauzone politischer und intellektueller Aktivität. Im Rahmen von freundschaftlichen Netzwerken nahmen Frauen wie Männer an der politischen Meinungsbildung teil. In Anna Maria Rüttimanns Verhalten widerspiegelte sich jedoch eine Diskrepanz zwischen gelebter Wirklichkeit und herrschendem Geschlechterdiskurs. Indem sie sich als begeisterte Anhängerin J.-J. Rousseaus entpuppte und explizit dem Ideal der modernen und unpolitischen Frau nacheiferte, zeigte sie die Richtung einer aufgeklärten Gesellschaft vor. War es Anna Maria Rüttimann als einer selbstbewussten Frau und Angehörigen der Bildungselite um 1800 noch möglich, die Durchlässigkeiten des Systems für die politische Mitsprache zu nutzen, so waren die Geschlechterdiskurse, die von zwei faktisch und ideell getrennten Wirkungsbereichen der Geschlechter sprachen, in ihr bereits fest verankert.