Wenn wir nicht mehr Zigeuner sein wollen, sondern Roma!“ Roma-Elite der Nachkriegszeit zwischen Versuchen der Interessensvertretung und den Versuchungen des Zigeunerdiskurses

Cognome dell'autore
Bernhard
Schär
Tipo di ricerca
Tesi di laurea
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Marina
Cattaruzza
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2003/2004
Abstract

Minderheiten, die bis vor wenigen Jahrzehnten von den Mehrheitsgesellschaften als „Zigeuner“ bezeichnet worden sind, werden heute „Roma“ genannt. Die gängigste Interpretation dieses Vorgangs lautet: „Zigeuner“ sei eine irreführende Fremdbezeichnung – die Selbstbezeichnung der damit gemeinten Menschen laute „Roma“. Bei genauerem Hinschauen drängt sich jedoch eine nuanciertere Interpretation auf. Kollektive Identitäten sind weder etwas ausserhistorisch Statisches, noch fallen sie einfach so vom Himmel. Sie beziehen ihren Sinn vielmehr durch die historischen Kontexte, in denen sie entstehen und sind daher wandelbar. Aus Sicht von politischen Eliten dienen kollektive Identitäten zudem als strategische Ressource, um bestimmte Ziele zu verfolgen.

 

Die Lizentiatsarbeit untersucht diese Mechanismen anhand einer politisch-akademischen Bewegung, die sich in den späten 1950er Jahren zu formieren begann, um die Interessen von „Zigeunern, Gypsies, Tsiganes, Cikan, Tigan, Ciganyok“ – wie diese marginalisierten Minderheiten jeweils genannt wurden – zu vertreten.

 

Über das Selbstverständnis von „Zigeunern“ weiss man bis heute kaum etwas. Die spärliche ethnologisch-anthropologische Forschung zum Thema legt jedoch nahe, dass es sich um eine Vielzahl verschiedener Gruppen handelt, die untereinander kaum Gemeinsamkeiten haben, ausser der Tatsache, dass sie von ihrer Umgebung als „Zigeuner“ bezeichnet wurden. Die in den späten 1950er Jahren entstehende transnationale „Zigeuner“-Bewegung trat daher im Namen einer äusserst heterogenen Gemeinschaft auf. Das zeigte sich 1971, als sich Aktivisten aus verschiedenen Ländern erstmals in London trafen. Die Vertreter konnten sich in ihren jeweiligen „Zigeunersprachen“ untereinander kaum verständigen. Jede politische Mobilisierung bedarf jedoch einer gemeinsamen Identität. Die Zusammenkunft in London wurde daher zum ersten „Roma Weltkongress“ ausgerufen. „Roma“ wurde als Bezeichnung für eine „Nation“ in der Diaspora eingeführt, die eine gemeinsame Kultur, Sprache, Geschichte und Herkunft aus Indien teile.

 

Damit reagierten die Aktivisten einerseits auf die stigmatisierenden Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaften. So galten doch „Zigeuner“ seit dem 18. Jahrhundert als das ultimativ „Andere“ des europäischen Selbst. Bis in die 1980er Jahre verfolgten westeuropäische Staaten „Zigeuner“ wegen ihrer angeblichen Kriminalität. Die kommunistischen Regimes in Osteuropa sahen in „Cikan“ ein verwahrlostes Lumpenproletariat, ein „Zigeunerproblem“, das sie mittels Zwangsumsiedelungen oder Zwangssterilisation zu „lösen“ versuchten. Die Diaspora-Identität von „Roma“ reagierte andererseits aber auch auf institutionelle Anreize der Mehrheitsgesellschaften. Die kommunistischen Staaten sahen rechtliche Privilegien für so genannte „nationale Minderheiten“ vor. Roma-Intellektuelle hatten daher grosses Interesse daran, die kommunistischen Machteliten davon zu überzeugen, dass die „Zigeunerfrage“ keine soziale, sondern eine „nationale Frage“ sei – dass diese Minderheiten also nicht zu assimilieren, sondern in der Entfaltung ihrer kulturellen Eigenart zu unterstützen seien.

 

Die „imagined community“ von Roma lässt sich auch ideengeschichtlich verorten. Die Vorstellung, dass „Zigeuner“ im Mittelalter aus Indien eingewandert seien, hat ihre Ursprünge im späten 18. Jahrhundert. Es handelte sich dabei um die „Entdeckung“ eines Göttinger Historikers, die bei näherer Betrachtung jedoch auf fragwürdigen philologischen Spekulationen beruhte. Die Vorstellung passte allerdings ins Zeitalter des aufblühenden Nationalismus. Sie entwickelte sich zum dominanten Narrativ, das im 19. und 20. Jahrhundert von Hobby-Folkloristen, aber auch von Rassentheoretikern weitergetragen wurde. Insofern bewegte sich die Identitätskonstruktion der Roma-Eliten innerhalb der Basisprämissen des Zigeunerdiskurses. Sie fügte ihm jedoch ein wichtiges neues Element bei. Der Aussenseiterstatus von Roma wurde erstmals mit den Ausgrenzungspraktiken der Mehrheitsgesellschaften in Zusammenhang gebracht.

 

Die Roma-Bewegung blieb bis zur Gegenwart in politischer Hinsicht schwach. Ihr Verdienst ist es jedoch, dass anstelle der romantischen oder rassistischen Folkloristik nun die Aufarbeitung der Repressionspraktiken von modernen Staaten gegenüber „Zigeunern“ im Zentrum des akademischen Interesses steht.

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