Die aus einem Forschungsprojekt zur Ortsgeschichte der Gemeinde Worb hervorgegangene Lizentiatsarbeit untersucht Ehekonflikte und Scheidungen in dieser Gemeinde in geschlechtshistorischer Perspektive. Grundlage der Arbeit sind die Chorgerichtsmanuale der Kirchgemeinde Worb zwischen 1700 und 1876, welche in partiellem Vergleich mit jenen der Kirchgemeinde Lauperswil qualitativ und quantitativ ausgewertet werden. Chorgerichtsmanuale sind Beschlussprotokolle, die während den Verhandlungen vor dem Chor- oder Sittengericht angelegt wurden. Dem Sittengericht oblag ab der Reformation bis zirka 1876 die Ahndung sittlicher Vergehen. Die Richtgewalt hatten weltliche Vertreter der Kirchgemeinde sowie der Pfarrer inne.
Diese gerichtliche Institution ist deshalb von Interesse, weil sie Quellen hervorgebracht hat, die in der Darstellung des abnormen Falles die Möglichkeit bieten, auf den „Normalfall“ zurückzuschliessen. Ehekonfliktsdebatten und Scheidungsprozesse, die in dieser Arbeit in den Blick genommen werden, liefern insofern indirekt Erkenntnisse über Ehebilder und die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit vor Gericht.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach der „Machtverteilung“ im Dreieck Mann – Frau – Obrigkeit, wobei die Machtdefinition an den Weberschen Machtbegriff anlehnt: Macht ist die Möglichkeit, in einer sozialen Beziehung seinen Willen durchzusetzen. Der Machtbegriff lässt sich in drei Dimensionen auffächern, indem in den Quellen zum einen die „gelebten Machtverhältnisse“ zwischen den Ehepaaren untersucht werden; zum zweiten wird die Machtausübung des Richters in Form von Eingriffsmöglichkeiten und der tatsächlichen Intervention der Obrigkeit in den patriarchalen Herrschaftsbereich des „Hauses“ aufgezeigt, und schliesslich erforscht die Arbeit die „Macht-Wechselspiele“, welche sich zwischen Mann und Frau und den Repräsentanten des Gerichts im Streit um den Erfolg der Klagen abspielten und zum Teil die Geschlechterordnung zu verunsichern vermochten. In Anlehnung an die makrohistorisch angelegte Zivilisationstheorie von Norbert Elias und der Rationalisierung von Max Weber geht die Arbeit auf mikrohistorischer Ebene den Auswirkungen der obrigkeitlichen Eingriffe und der Instrumentalisierung der gerichtlichen Institution nach. Dabei wird das Gericht als Ort verstanden, an welchem Machtressourcen aktiviert und Machtverhältnisse verändert werden können. Modifizierte Machtverhältnisse stellen die Geschlechterordnung und somit die Idee von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage.
Die Resultate der Untersuchung bestätigen für Worb die in der jüngeren Forschung erarbeitete These, wonach sich die ehelichen Machtverhältnisse nicht starr einseitig zu Gunsten des Mannes äusserten. Denn Frauen klagten nicht nur öfter als Männer vor Gericht, sondern bekamen auch häufiger von den Richtern Recht. Es wäre aber zu weit gegangen, diesem richterlichen Wohlwollen den Charakter eines „Bündnisses“ zwischen Frauen und Richter gegen die Männer zuzusprechen. In der Arbeit wird vielmehr die These vertreten, dass sich im Gerichtsprozess zwei verschiedene Interessensbereiche von Richtern und Ehefrauen überschnitten und in gemeinsam gewünschten Massnahmen wie der Bestrafung des Ehemannes oder der Scheidung mündeten. Während die Ehefrauen meist aus existentiellen Bedürfnissen heraus eine Zurechtweisung ihrer Männer wünschten, erkannten die Richter in den Sanktionsmöglichkeiten einen Weg, die Sittenkontrolle in den Raum des „Hauses“ und des Paares hineinzutragen. Insofern lässt sich ein die beiden Jahrhunderte durchziehender zunehmender „Verrechtlichungsprozess“ feststellen, der aber nicht einseitig von der Obrigkeit gesteuert, sondern meist von den Betroffenen selbst durch ihre Klageaktivität gefördert wurde. Die in der Untersuchungszeit tendenziell zunehmende Zahl an Klagen dokumentiert insofern einen ausbleibenden Erfolg der obrigkeitlich beabsichtigten „Sozialdisziplinierung“, wie sie Gerhard Oestreich definiert, aber gleichzeitig auch eine allmähliche Monopolisierung der Konfliktlösung beim Gericht und dadurch eine gewisse Schwächung der hausherrlichen Macht. Ein Hinweis darauf ist auch die abnehmende Züchtigungskompetenz der Ehemänner gegenüber ihren Frauen. Die strategisch verfolgten Argumentationslinien der Klagenden und Beklagten vor Gericht deuten auf gute Kenntnisse der Gesetzeslage und der Gesetzespraxis und können somit zusätzlich als Indiz für den Verrechtlichungsprozess gewertet werden.