Gemeindeversammlungen sind in der Schweiz noch heute wichtige politische Institutionen zur Regelung des lokalen Alltags. Teils heftig geführte Diskussionen über Sinn oder Unsinn ihres Weiterbestehens zeigen, dass sie einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Bevölkerung geniessen.
Die Lizentiatsarbeit entstand im Rahmen der übergeordneten Intention, kommunale Politikstrukturen der Frühen Neuzeit auf Parallelen zur Gegenwart abzusuchen. Konzeptionell eingefangen werden konnten die Gemeindeversammlungen mit dem von Peter Blickle geprägten Epochenbegriff „Kommunalismus“. Die Diskussion dieses Konzeptes zeigte zwei Desiderate. Zum Ersten drängte sich die Frage auf, welchen Gemeindebewohnern die Teilnahme an den Versammlungen erlaubt war. Zum Zweiten lässt es Blickle weitgehend offen, welche kommunalistischen Qualitäten Gemeinden in Territorialstaaten wie Bern besassen.
Die Untersuchung einzelner Berner Gemeinden anhand von Versammlungsprotokollen und Gemeindeordnungen förderte zu Tage, dass der Graben, der die politisch Berechtigten von den Unberechtigten schied, zwischen den Dorfgruppen Burger und Hintersässen, Bauern und Tauner, Hausväter und Haushaltsmitglieder verlief. Insgesamt konnten für das bernische Territorium fünf Gemeindetypen mit unterschiedlicher politischer Einbeziehung der einzelnen personalund realrechtlich differenzierbaren Gruppen erarbeitet werden. Die Kombination mit den so genannten Ökotypen, nach welchen Christian Pfister den Kanton Bern kartiert hat, zeigte weiter, dass die politische Berechtigung in diesen Gemeinden über ein System von Rechten und Pflichten verstanden werden muss: Wo der Genuss der Rechte (etwa Nutzung der Allmend) die Last der Pflichten (etwa die Versorgung der Armen) überstieg, besass die Gemeindeversammlung exklusivere Züge als andernorts, wo die Lasten auf möglichst viele Schultern verteilt werden sollten.
Die Zahl der in einem Jahr stattfindenden Versammlungen lag im 18. Jahrhundert deutlich höher als heute. Neben monatlichen Zusammenkünften fand immer auch eine unbestimmte Zahl ausserordentlicher Extra- oder Expressgemeinden statt. Diese ermöglichten den Gemeinden effizient und ausserhalb des gewohnten Rhythmus auf die Herausforderungen des Alltags zu reagieren. Die enorme Inanspruchnahme durch die Versammlungen äusserte sich aber nicht in einer bescheidenen Teilnahme. Durchschnittlich besuchten rund 75% der Berechtigten die Versammlungen (heute sind es je nach Gemeindegrösse noch etwa 20% oder weniger, die ihren lokalpolitischen Pflichten nachkommen). Krisenjahre liessen jedoch im 18. Jahrhundert das Interesse an gemeindlichen Angelegenheiten deutlich zurückgehen. Der mit Bussenverhängung ausgedrückte Zwang zur Teilnahme zielte auf die für das KommunalismusKonzept so wesentlichen Wertkategorien Frieden und Gemeiner Nutzen.
Dass diese Begriffe zu den Leitprinzipien der damaligen Kommunalpolitik gehörten, zeigte sich auch in den verschiedenen Entscheidungsverfahren, anhand derer die Gemeindeämter bestellt und Sachentscheide getroffen wurden. Mit vielfältig gekoppelten Willens- und Zufallsentscheidungen versuchten die Gemeinden die besten und für ihre Belange nützlichsten Resultate zu generieren. Diese mussten sich nicht nur an den genannten Wertkategorien, sondern ebenso am herrschenden Konsensprinzip messen lassen können. Nur wenn auch nicht-einstimmige Entscheide von der ganzen Gemeinde getragen wurden, war koordiniertes Handeln überhaupt möglich. Natürlich konnten die Gemeinden im Ancien Régime nicht losgelöst von der Obrigkeit operieren. Vor allem bei der Ämterbestellung wollte diese ein Wörtchen mitreden. Allerdings entschieden auch in diesem Bereich viele Gemeinden selbständig. Der Obrigkeit war noch eine gewisse Kontrollfunktion vorbehalten.
Wie sehr die Gemeinden nicht nur aus dem Machtzentrum Bern dominierte Körperschaften waren, sondern durchaus eine gewisse Selbständigkeit erlangen konnten, ging aus der Analyse der Versammlungsinhalte deutlich hervor. Je nach Gemeinde sowie struktureller und naturräumlicher Gegebenheiten war die Themenvielfalt aber unterschiedlich. Sie reichte von der Verwaltung der Gemeindegüter über die Bestellung der Gemeindeämter hin zur Versorgung der Armen, zur Regelung des Wehrwesens, zum Erlassen von Regeln für ein friedliches Zusammenleben etc. Insgesamt konnte anhand der benutzten Quellengattungen ein vielfältiges Leben in den
Gemeindeversammlungen im bernischen Territorium im 18. Jahrhundert herausgearbeitet werden. Innerhalb des Berner Staatswesens fanden die Gemeinden Nischen, in denen sie sich nach ihrem Willen entwickeln konnten. Von einer immer stärkeren Vereinheitlichung der politischen Strukturen im bernischen Territorium kann gerade im Bereich der Gemeindeversammlungen keine Rede sein.
Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Regionalgeschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).