Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
PD Dr. phil
Daniel Marc
Segesser
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2017/2018
Abstract
In dieser Arbeit wurde der gefühlsmässige Einfluss von Angst, Vertrauen und Freundschaft auf das Handeln von Akteuren der Dritten Französischen Republik während der diplomatischen Gespräche im Juli 1914 in St. Petersburg untersucht. Dass Gefühle das menschliche Leben in grossem Masse prägen, dürfte unbestritten sein: Gefühle sind alltagsrelevant, sie bestimmen nicht nur unseren Gemütszustand, sondern manifestieren sich auch in unserem Verhalten. Darüber hinaus hielt bereits Stig Förster in seinem Aufsatz „Angst und Panik. ‚Unsachliche‘ Einflüsse im politischmilitärischen Denken des Kaiserreichs und die Ursachen des Ersten Weltkrieges“ fest, dass Gefühle bei der Verursachung des Ersten Weltkriegs eine erhebliche Rolle gespielt haben dürften.
Als Quellen dienten in dieser Arbeit in erster Linie das Tagebuch und die Memoiren des französischen Präsidenten Raymond Poincaré sowie die Aufzeichnungen der ständigen französischen Gesandten in Russland Maurice Paléologue und Louis de Robien. Der Grund für die Auswahl der französisch-russischen Gespräche im Juli 1914 liegt vor allem darin, dass diese bisher nur oberächlich untersucht wurden und sich gerade mit der emotionalen Dimension bis heute niemand vertieft beschäftigt hat. Dies dürfte darin begründet liegen, dass Gefühle als Objekt historischer Forschung schon deswegen schwierig sind, weil die jeweiligen De nitionen immer mit umfangreichen Prämissen über das Verhältnis zwischen seelischen und körperlichen Zuständen und ihrer jeweiligen Kontrollierbarkeit verbunden sind. Hier wurde dafür plädiert, nicht zwischen dem mutmasslichen Kern eines Gefühls im Inneren des Individuums und seiner mehr oder weniger verzerrten äusseren Repräsentation zu unterscheiden, sondern Gefühle als rein soziale Phänomene zu denken, die in zwischenmenschlicher Interaktion sowohl nachträglich ausgedrückt als auch modelliert und hergestellt werden können. Vor diesem Hintergrund sowie in Anlehnung an die Theorien von William M. Reddy und Pierre Bourdieu wurden Emotionen auf Grundlage der im Modell von Monique Scheer entwickelten „emotionalen Praktiken“ untersucht, anhand derer sich Emotionen nicht nur kategorisieren, sondern auch interpretieren lassen.
Der Problematik von Gefühlen als Untersuchungsgegenstand in der Geschichte ist damit aber nicht vollständig Genüge getan, denn wie sich Emotionshistoriker und Emotionshistorikerinnen gemeinhin einig sind, sind Emotionen nicht nur historisch, sondern auch kulturell stark wandelbar. In der vorliegenden Arbeit wurde deshalb versucht, sich historischen Emotionen zu nähern, indem vorgängig zur eigentlichen Emotionsanalyse eine alternative Vorstellung des historischen Verstehens im Gegensatz zur traditionellen Hermeneutik geprüft wurde. Die komplexe Besonderheit und die spezifische Umständlichkeit des sozialanthropologisches Konzepts der „Dichten Beschreibung“ nach Clifford Geertz sollte der Abstumpfung der eigenen Wahrnehmung und Interpretation von Emotionen entgegenwirken und schliesslich dazu dienen, einen Zugang zur Gedanken-bzw. Emotionswelt der untersuchten Subjekte zu erlangen.
Es zeigte sich schliesslich nicht nur, dass der Umgang der jeweiligen Akteure mit ihren eigenen Emotionen mehrschichtig und äusserst komplex war, sondern dass es bei allen untersuchten Akteuren zu einer wechselseitigen Beeinflussung von Kommunikation und Emotionen kam und dass es in dieser spezifischen historisch-kulturellen Situation der diplomatischen Kommunikation bei kollektiven Entscheidungsfindungen bestimmte Normen, Werte und Gesetzmässigkeiten gab, die nicht nur in Bezug auf Formalitäten wie etwa korrekte Anredeformen, tradierte hierarchische Abfolgen oder anlass- und standesgemässe Bekleidung galten, sondern die auch direkten Einuss auf Emotionen nehmen konnten. Alle hier untersuchten Akteure kannten diese Standards des emotionalen Umgangs. So wurden sie mit einer Ausnahme in allen kommunikativen Situationen ohne weiteres angewandt. Die erwähnte Ausnahme betrifft das Verhalten von Raymond Poincaré, der durch eine Konversation mit dem österreich-ungarischen Botschafter in Russland Friedrich Szàpàry am 21. Juli 1914 emotional derart aufgewühlt wurde, dass er die geltenden Standards vernachlässigte und sich zu einer völlig unangemessenen, möglicherweise sehr gefährlichen Aussage bzw. Drohung gegenüber dem österreich-ungarischen Botschafter hinreissen liess.
Emotionen nahmen also tatsächlich einen Einuss auf das Handeln von politischen Akteuren während dieses Staatsbesuchs. Obwohl dieser aufgrund der festgestellten Standards im kommunikativen Verhalten während diplomatischer Gespräche prinzipiell gering blieb, zeigt die Äusserung von Poincaré gegenüber dem österreich-ungarischen Botschafter die potentielle Macht und Gefahr von Emotionen in aller Deutlichkeit auf und weist darauf hin, dass Gefühle bei der Verursachung des Ersten Weltkriegs eine erhebliche Rolle gespielt haben dürften.