Die Masterarbeit untersucht zwei Reiseberichte aus den Jahren 1921 und 1926, die der aktive Gewerkschafter Franz Reichmann nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion als Zeitungsartikel und im zweiten Fall auch als Buch publiziert hat. Die Untersuchung geht der spezifischen Frage nach, was Reichmann über die sowjetischen Gewerkschaften in seinen Berichten konkret schreibt, aber auch, in welcher Weise er seine Beobachtungen vorträgt. Dabei sollen zudem die von Reichmann benannten Unterschiede der sowjetischen zu den Schweizer Gewerkschaften hervorgehoben werden.
Die Untersuchung gliedert sich in acht Kapitel. Nach den einführenden Worten befasst sich Kapitel zwei mit theoretischen Aspekten zur Gattung „Reisebericht“: Die Entwicklung und der Stellenwert des Reiseberichtes werden mittels eines chronologisch-historischen Längsschnittes beschrieben, wobei auch die Entstehung und Wirkung von Reiseberichten über die Sowjetunion sowie deren quellenspezifische Relevanz und Aussagekraft für die Historiografie dargestellt werden. Das dritte und vierte Kapitel widmet sich der russischen bzw. Schweizer Gewerkschaftsgeschichte, wobei gleichzeitig eine Verknüpfung mit Erkenntnissen aus der Politik-, Sozial-, Wirtschaftsund Alltagsgeschichte vorgenommen wurde. Dabei beschreibt das dritte Kapitel die Entstehung und Entwicklung der russischen Gewerkschaften im Zarenreich bis zum Ende der Neuen Ökonomischen Politik, während das vierte Kapitel die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung in der Schweiz bis zu deren Stand am Ende der 1920er-Jahre schildert.
Schliesslich beginnt Kapitel fünf mit biografischen Angaben zu Franz Reichmann, um dann die beiden Reiseberichte von 1921 und 1926 vorzustellen und mit Hinblick auf die Fragestellung zu untersuchen. Abgeschlossen wird die Arbeit mit dem Fazit in Kapitel sechs und der Bibliografie sowie dem Anhang, in dem neben dem Abkürzungsverzeichnis und Abbildungen auch acht Fotografien von Reichmanns zweiter Reise zu finden sind. Die Ergebnisse der Masterarbeit lassen sich in drei Hauptpunkten zusammenfassen: Erstens ist aus Reichmanns Berichten klar geworden, dass der Schweizer mit deutschen Wurzeln ein fast durchgehend positives Bild von der Sowjetunion, aber auch von der sowjetischen Gewerkschaftsbewegung mit nach Hause genommen hat. Es finden sich nur wenige Kritikpunkte am sowjetischen Gewerkschaftssystem (beispielsweise der schwerfällige bürokratische Aufbau) und Reichmann macht keinen Hehl aus seinen positiv konnotierten Vorstellungen des Landes, das er selbst anerkennend als den „Schrecken der internationalen Bourgeoisie“ bezeichnet hat. Dabei spielte die „Logistik der Fremdbildproduktion“ (Jürgen Osterhammel) bzw. die „techniques of hospitality“ (Sylvia Margulies, Paul Hollander) eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Ausprägung von Reichmanns Reiseerfahrungen.
Zweitens stellen Reichmanns Berichte eine informative Quelle dar, was die sowjetische Gewerkschaftsbewegung anbelangt, auch wenn die Beschriebe in ihrer Perspektive deutlich gefärbt sind. So war es Reichmann möglich, an zwei Kongressen der russischen Baubzw. Holzarbeiter teilzunehmen, er erhielt Einblicke in den Verband der russischen Post-, Telegrafenund Telefonarbeiter und konnte daneben andere Einrichtungen wie eine Möbelfabrik und Banknotendruckerei besuchen. Reichmanns Berichte zeigen sich zuweilen detailreich und ausführlich, wobei der zweite Bericht von 1926 deutlich mehr Anhaltspunkte bezüglich der Fragestellung liefert als derjenige von 1921. Allerdings finden sich fast keine Vergleiche zu Schweizer Gewerkschaften in den Berichten von Reichmann, obwohl sich dies durchaus angeboten hätte; vermutlich wollte sich Reichmann auf die Berichterstattung konzentrieren und Werturteile vermeiden, die seinem erklärten Ziel, seine Berichte möglichst „objektiv“ zu gestalten, wohl in die Quere gekommen wären.
Drittens hat sich bei der Betrachtung der Reiseberichte die Vorstellung Reichmanns herauskristallisiert, dass der Schweizer die sowjetischen Gewerkschaften als wichtigen, aktiven und gleichberechtigten Partner der regierenden kommunistischen Partei wahrnahm und auch so darzustellen versuchte. Die Masterarbeit hat gezeigt, dass die sowjetischen Gewerkschaften zwar Einfluss auf die Produktion eines Betriebes nehmen und in ökonomisch-sozialen Bereichen mitreden konnten, sie aber stets in der Rolle des Beraters zu bleiben schienen. In diesem Beraterstatus waren die sowjetischen Gewerkschaften dem Staat nicht nur in hierarchischer Hinsicht untergeordnet, sondern wurden letztlich von den Kommunisten gesteuert und kontrolliert. Lenins Konzeptionen von den Gewerkschaften als „Schulen für den Kommunismus“ und „Transmissionsriemen“ zwischen Staat und Arbeiterschaft hatten sich bereits vor dem Tod des Revolutionärs im Jahre 1924 durchgesetzt, eine Tatsache, die sich auch in Reichmanns Berichten widerspiegelt.
Die Reisen des Schweizer Gewerkschafters Franz Reichmann in die Sowjetunion 1921 und 1926
Tipo di ricerca
Tesi di master
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
Christian
Gerlach
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2010/2011
Abstract