Gerade einmal fünf Jahre nachdem an der zweiten Haager Friedenskonferenz von 1907 die Regelung und Kodifizierung des internationalen Kriegsvölkerrechts überarbeitet worden waren, standen sich die Armeen der Balkanstaaten und der Türkei in einem erbittert geführten Konflikt gegenüber. Parallel zur offiziellen Kriegführung verlief ein permanenter Kleinkrieg zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen, der durch Terror und Untergrundkampf gekennzeichnet war. Die in den beiden Balkankriegen verübten Gräueltaten sollten zu einem Menetekel für das schreckliche „Jahrhundert der Kriege“ (Gabriel Kolko) werden. Die internationale Öffentlichkeit war empört über die „unzivilisierte“ Kriegführung der Balkanstaaten. Im Anschluss an diese Kriege setzte das Carnegie Endowment of International Peace eine Kommission ein, welche die Ursachen, den Verlauf und die Auswirkungen der Kriege detailliert untersuchen sollte. Die Carnegie-Stiftung beabsichtigte damit, der internationalen Öffentlichkeit die Schrecknisse des modernen Krieges vor Augen zu führen und ihr gleichzeitig eine Möglichkeit zu geben, aus den Vorgängen auf dem Balkan Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Die Studie unternimmt den Versuch, Entstehung, Inhalt, Hintergrund und Auswirkung des Carnegie-Berichts zu analysieren, wobei die bulgarischen Gräueltaten dabei im Mittelpunkt stehen. Die spezifische Fragestellung richtet sich nicht auf die Darstellung des militärischen Kriegsverlaufs, sondern auf die Wirkungskraft des modernen Kriegsvölkerrechts.
Die Arbeit beginnt mit einer kurzen Analyse der Entwicklung des Kriegsvölkerrechts, wobei im Speziellen die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 und die Haager Landkriegsordnung betrachtet werden. Sodann setzt sich die Studie mit der unmittelbaren Berichterstattung über die Balkankriege auseinander. Anhand deutscher, österreichischer, französischer sowie einzelner englischer und russischer Berichte wird dargestellt, wie die bulgarischen Grausamkeiten im übrigen Europa wahrgenommen wurden. Dabei zeigte sich bereits der tendenziöse Charakter dieser zeitgenössischen Berichte. Es folgt eine Darstellung über die Geschichte der Carnegie-Stiftung und über die Entstehung des Untersuchungsberichtes.
Vor diesem Hintergrund wird der Carnegie-Bericht im Hinblick auf die Anschuldigungen gegenüber Bulgarien analysiert. Der Vergleich der Untersuchungsergebnisse der Kommission mit anderen zeitgenössischen Analysen zeigte, dass der Carnegie-Bericht tatsächlich erstaunlich fair, unparteiisch und ziemlich akkurat ausfiel, auch wenn seine Schlussfolgerungen teilweise zu milde und gelegentlich widersprüchlich waren. Die Aussage des Carnegie-Berichts war zwar im Kern nichts Neues, da bereits zahlreiche Zeitungskorrespondenten und Kriegsberichterstatter die internationale Öffentlichkeit über die Gräueltaten auf dem Balkan informiert hatten. Neu war allerdings der Umfang der Information, da der Bericht erstmals das Kriegsgebiet als Ganzes untersuchte. Bis anhin hatten sich solche Berichte oft auf den militärischen Verlauf oder auf die Auflistung von (eigenen) Verlusten beschränkt. Zudem weitete die Carnegie-Kommission ihre Untersuchung erstmals auch auf finanzielle, soziale und moralische Aspekte aus. Die Quintessenz der Untersuchung fiel eindeutig aus: Die kriegführenden Armeen unterschieden sich in ihrem Verhalten nur unwesentlich oder gar nicht. Keine der Kriegsparteien war frei von Kriegsvölkerrechtsverletzungen und Barbarei. Der Bericht konnte auch die Vermutung erhärten, dass die meisten Verbrechen nicht von regulären Einheiten, sondern von marodierenden „Banden“ und der Zivilbevölkerung selbst begangen wurden. In diesem Sinne war das Ergebnis der Untersuchung auch als Kritik des herkömmlichen Kriegsvölkerrechtes zu verstehen, das sich lediglich auf den Krieg zwischen Armeen erstreckte. Für Vergehen paramilitärischer oder nichtkombattanter Gruppen gab es keine Bestimmungen in den Haager Konventionen. Nicht zuletzt kritisierte der Carnegie-Bericht auch die zynische und nur auf den eigenen Vorteil bedachte Politik der Grossmächte, welche die Balkanstaaten mit Waffen beliefert hatten und dann auf Grund der einzelnen Interessenlagen und der Bündnispolitik vor einem Eingreifen zur Durchsetzung des geltenden Kriegsvölkerrechts zurückgeschreckt waren.
Der Carnegie-Bericht konnte wegen des kurze Zeit später ausgebrochenen Ersten Weltkrieges und der folgenden Ereignisse nur noch geringe Wirkung erzielen. Trotzdem war dieser Bericht ein Meilenstein auf dem Weg zur Verrechtlichung und Einhegung des Krieges. Er markierte den Beginn der modernen Debatte über eine supranationale Durchsetzung des Kriegsvölkerrechts und eine internationale Ahndung von Kriegsverbrechen.