... dan mein mutter wot nicht muter sein, und der vatter nicht vatter ...“. Findelkinder in Bern im 18. Jahrhundert

Cognome dell'autore
Gerrendina
Gerber-Visser
Tipo di ricerca
Tesi di laurea
Stato
abgeschlossen/terminé
Cognome del docente
Prof.
André
Holenstein
Istituzione
Historisches Institut
Luogo
Bern
Anno
2002/2003
Abstract

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist in ganz Europa ein starker Anstieg der Kindsaussetzungen zu beobachten. Die Ursachen und Folgen der steigenden Rate von unehelichen Schwangerschaften und die damit zusammenhängenden Probleme von Kindsmord und Kindsaussetzung werden zu dieser Zeit von Intellektuellen und Reformpolitikern heftig diskutiert.

 

Die Arbeit untersucht, wie die bernische Obrigkeit sich des Problems der Kindsaussetzungen annahm, wie die Findelkindfürsorge organisiert war und welche sozialpolitischen Erwägungen zu den getroffenen Lösungen führten. Zudem wird nach den Hintergründen der Aussetzungen und den Zukunftsperspektiven der ausgesetzten Kinder gefragt.

 

Seit 1741 war der bernische Kornmagazinverwalter zugleich Findelkindschaffner („Fündelischaffner“). Er war für die Verdingung der Kinder auf das Land zu Bauernfamilien zuständig. Er war der Vennerkammer unterstellt und ihr rechenschaftspflichtig, die nötigen Mittel erhielt er vom Deutschseckelmeister. Die Rodel und Rechnungen des Findelkindschaffners sind für längere Zeitabschnitte überliefert und sie bilden die Quellenbasis für die Untersuchung. Nach der Gründung der Landsassenkorporation 1779/80 übernahm die Landsassenkammer die Aufgabe der Findelkindfürsorge.

 

Die quantitative Auswertung der Quellen ergab, dass die Kindsaussetzungen auch in Bern gegen Ende des Jahrhunderts stark zunahmen. Ausserdem weist sie auf eine sehr hohe Quote der Säuglingssterblichkeit der ausgesetzten Kinder (53,7% im ersten Lebensjahr) hin, die noch deutlich über der allgemein hohen Säuglings- und Kindermortalität dieser Epoche lag. Die schlechte Versorgung der ausgesetzten Kinder bis zu deren Auffindung, die physische und psychische Belastung der aussetzenden Mutter sowie allenfalls die künstliche Ernährung mancher der verdingten Kinder dürften die Ursachen dieser hohen Mortalitätsrate sein.

 

Ein Teil der Arbeit ist der strafrechtlichen Behandlung der Kindsaussetzung im alten Bern sowie der Auswertung von Verhören mehrerer festgenommener Mütter gewidmet. Die Vielfältigkeit der Motive für die Aussetzungen verbietet eine monokausale Erklärung für die Zunahme der Aussetzungen gegen Ende des Jahrhunderts. Auch wenn das Sample der verhörten Mütter keine repräsentativen Aussagen zulässt, so zeigt sich doch, dass es sich dabei häufig um ledige Frauen handelte, die überwiegend aus der Unterschicht stammten und meistens zwischen 20 und 25 Jahre alt waren. Die Angst vor Bestrafung für Unzucht und vor gesellschaftlicher Isolation, vor Ehrverlust und Schande sowie das Fehlen von Unterstützung von Seiten des Kindsvaters waren häufige Motive für die Entscheidung zur Kindsaussetzung.

 

Die ausgesetzten Kinder wurden bald nach ihrem Auffinden getauft und erhielten einen Namen, der auf die Umstände oder den Ort ihrer Auffindung verwies oder ein moralisierendes Attribut enthielt. In der Regel wurden die Kinder unmittelbar nach der Taufe und der primären Versorgung im Spital zu Bauernfamilien auf dem Land verdingt. Die Kosten der Obrigkeit für die Betreuung der einzelnen Findelkinder waren relativ hoch: Mit 18 bis 20 Kronen pro Jahr und Kind lagen die Ausgaben der Obrigkeit für Kostgelder höher als die entsprechenden Auslagen, welche Gemeinden für die Verdingung fürsorgebedürftiger Kinder tätigten.

 

Die Verdingung zu Bauernfamilien geschah im Hinblick auf eine künftige Integration der Kinder in die soziale Schicht der ländlichen Dienstboten. Wenn einem Kind wegen körperlicher Schwäche die Feldarbeit nicht zuzumuten war, konnte dieses eine Lehre in einem Textilberuf absolvieren. Dies war bei Knaben allerdings eine Ausnahme, während Mädchen, vor allem zu Anfang der Untersuchungsperiode, recht häufig eine kurze Lehre bei einer Schneiderin durchlaufen durften. Die Kinder besuchten in der Regel einige Jahre die Schule. Der Staat übernahm das Schulgeld und die Auslagen für Schulbücher. Auch die Kosten für die medizinische Betreuung und für eine kleine Aussteuer bei der Entlassung aus der Obhut des Findelkindschaffners gingen zulasten des Staates. Nach 1780 setzte ein starker Rückgang der Beiträge der nunmehr zuständigen Landsassenkammer an den Findelkindschaffner ein. Dieser Rückgang ist auf die Zunahme der Aussetzungen zurückzuführen.

 

Kranke, Behinderte und Gebrechliche wurden über die Kindheit hinaus dauerhaft durch die Obrigkeit unterstützt. In einigen Fällen liessen sich auch bei gesunden Personen die weiteren Lebensläufe rekonstruieren: Viele heirateten und gründeten eine Familie, allerdings werden sie häufig eine Existenz am Rande der Armut gefristet haben. Darauf verweisen die Unterstützungszahlungen der Landsassenkammer an Erwachsene, die zuvor von der Obrigkeit als Findelkinder aufgezogen worden waren, und die Tatsache, dass die in den Gerichtsakten aufgespürten Delinquenten unter den Findelkindern meist wegen Eigentumsdelikten straffällig geworden waren.

 

Nur kurze Zeit bestand in Bern im 17. Jahrhundert ein Waisenhaus, in dem auch Findelkinder untergebracht wurden, ein eigentliches Findelhaus gab es nie. Das bernische System der Findelkindbetreuung war mit der Verdingung der Kinder zu Bauernfamilien dezentral organisiert, wurde jedoch zentral finanziert und kontrolliert. Hinter diesem Modell stand die pädagogische Absicht, die Kinder in die ländlich-bäuerliche Unterschicht zu integrieren. Diese Lösung lässt weniger auf sozialdisziplinierende Absichten der Obrigkeit schliessen als auf eine Haltung christlich-paternalistischen Pflichtgefühls im Umgang mit diesem offenen Problem.

 

Die Arbeit wird in der Reihe „Berner Forschungen zur Regionalgeschichte“ vom Verlag Traugott Bautz publiziert (www.bautz.de).

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