Verantwortung: Gregor Spuhler
Referierende: Fabienne Meyer / Niels Pohl-Schneeberger / Susanne Bennewitz
Kommentar: Gregor Spuhler
In seiner Einleitung ins Panel betonte GREGOR SPUHLER (Zürich), dass sich jede Generation von Historikern und Historikerinnen den Forschungsbereich Nationalsozialismus erneut erarbeiten müsse. Schon in der Schweiz der 1980er-Jahre, als er selbst am Bergier-Bericht mitarbeitete, sei die Kritik aufgekommen, dass die NS-Flüchtlingspolitik doch bereits «so weit erforscht» ist. Zentral für die Erarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus sei aus diesem Grund auch die internationale Zusammenarbeit, um die Thematik aus möglichst vielen unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Deswegen seien an diesem Panel auch deutsche Forscher und Forscherinnen beteiligt.
Im ersten Referat beschäftigte sich SUSANNE BENNEWITZ (Trier) mit der Übernahme deutscher Gesetze im Jahr 1935 durch Schweizer Zivilstandsämter. Ausgangspunkt für ihre Forschung ist das sogenannte Deutsche Blutschutzgesetz, das 1935 als Teil der Nürnberger Gesetze in Kraft trat. Dieses Gesetz war eine biopolitische Massnahme des NS-Regimes und zielte auf die propagierte Rassenhygiene. Dadurch seien Trennungslinien innerhalb der Bevölkerung geschaffen worden. Allerdings hätten die Verantwortlichen des NS-Regimes das Gesetz so formuliert, dass für binationale Paare eine Umgehung durch Abwanderung möglich gewesen wäre: Jüdische Deutsche hätten auf diese Weise einen Schweizer oder eine Schweizerin heiraten können. Für die Schweiz sei das auf Grund ihrer damaligen starken Abgrenzungspolitik eine Herausforderung gewesen. Die Situation habe sich zugespitzt, als Paul Dinichert, von 1932 bis 1938 Schweizer Gesandter in Berlin, ein Abkommen aushandelte, in dem die Möglichkeit der Heirat von jüdischen Deutschen mit Schweizern und Schweizerinnen explizit festgehalten wurde. Aufgrund aktiver Desinformation seitens des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) sei diese Information aber nie an die kantonalen Ämter weitergegeben worden, weshalb die Ämter die gesetzliche Situation falsch interpretiert hätten. So habe man den «Ariernachweis» auch in Schweizer Familienscheinen bereits 1936 eingeführt - zwei Jahre bevor er in Deutschland Pflicht wurde. Deutsch-jüdische Heiratswillige seien bereits 1934 vom Basler Standesamt ausgeschlossen worden und ab 1939 seien die Standesämter aktiv in die Grenzkontrollen eingebunden gewesen. Aus diesen Ausführungen folgerte Bennewitz schliesslich, dass aufgrund von Fehlinterpretationen und Desinformation auch Schweizer und Schweizerinnen keine Jüdinnen und Juden heiraten durften.
Im zweiten Referat beleuchtete NIELS POHL-SCHNEEBERGER (München) den Umgang der NS-Behörden mit Jüdinnen und Juden, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besassen. Dieser Umgang habe die widersprüchlichen Ziele des Nationalsozialismus offensichtlich gemacht. Einerseits wurde 1941 auf der Wannsee-Konferenz die «Endlösung der Judenfrage» beschlossen, andererseits bargen die internationalen Staatsbürgerschaften diplomatisches Konfliktpotenzial, da NS-Deutschland für die Erreichung seiner Kriegsziele auf internationale wirtschaftliche und politische Kooperation angewiesen war. Jüdinnen und Juden aus nicht besetzten Gebieten (USA, Grossbritannien) seien von der Verfolgungspraxis ausgeschlossen gewesen. Bei neutralen Ländern habe es sich hingegen um Sonderfälle gehandelt. Zur Bestätigung führte Pohl-Schneeberger den Fall der Familie Lebedinsky aus Riga aus: Vater Eduard hatte während seines Studiums in der Schweiz die Staatsbürgerschaft erworben, kehrte mit der Familie aber wieder nach Riga zurück und liess nur den jüngsten Sohn Gabriel in Zürich zurück. Nach der deutschen Besetzung und den damit einsetzenden Pogromen wollte die Familie 1941 aus Lettland ausreisen, doch das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, besser bekannt als Ostministerium, habe sie aus Furcht vor Informationsweitergabe über die «Judenfrage» daran gehindert. Aus der Korrespondenz zwischen dem Auswärtigen Amt des NS-Regimes und dem Ostministerium sei hervorgegangen, dass die Nationalsozialisten mittels «individuellen Begründungen», beispielsweise dem Verdacht auf Spionage, Rechtsverletzungen gegen jüdische Doppelbürger verschleiern wollten. Diese Taktik sei erfolgreich gewesen: Die Schweiz habe im Fall Lebedinsky nicht weiter interveniert, was zum Tod der Familie 1942 beigetragen habe. Denn ihre Ausreise sei nie ernsthaft infrage gekommen. Zudem habe der Schweizer Staat den überlebenden Sohn Gabriel in den 1950er-Jahren nicht entschädigt.
Im dritten Referat sprach FABIENNE MEYER (Freiburg) über Schweizer Diplomatie und Opferschutz während der NS-Zeit anhand der Korrespondenz des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD, heute EDA) mit den Schweizer Konsulaten in Frankreich. Ähnlich wie beim Fall Lebedinsky habe Bundesrat Giuseppe Motta, damals Vorsteher des EPD, auf die Prüfung von Einzelfällen bestanden, um die Einreise von «unerwünschten Personen» zu verhindern. Paul Dinichert allerdings habe sich für eine generelle Protestnote starkgemacht, woraufhin Motta ihm Zurückhaltung angeordnet habe. Während den 1930er-Jahren hätten die Schweizer Behörden bei Doppelbürgern und Doppelbürgerinnen auf eine Intervention verzichtet, da dies «sich nicht gelohnt hätte». Ebenso habe das EPD Auslandschweizern und - schweizerinnen empfohlen, am Wohnort zu verweilen. Erst mit dem Wissen über die NS-Kriegsverbrechen sei das EPD aktiver geworden. Zwischen 1943 und 1944 sind trotzdem 406 Schweizer Jüdinnen und Juden im Moloch der NS-Konzentrationslager verschwunden. Denn die «Einzelfallstrategie» sei auch in den kritischen Jahren nicht angepasst worden, obwohl die Schweizer Konsulate vor Ort oftmals schnell hätten intervenieren können. Das EPD habe sich die Flexibilität offenhalten wollen, um «unerwünschte Personen» nicht zu schützen, was meistens zu Konflikten zwischen dem EPD und den Konsulaten geführt habe.
Wegweisend für die anschliessende Diskussion war die Tatsache, dass die «Einzelfallstrategie» sich durch alle drei Referate zog. Auch im Fall des «Blutschutzgesetzes» von 1935 seien binationale Ehen von den deutschen Behörden von Fall zu Fall behandelt worden. Dieses Vorgehen habe man in der Schweiz aufgrund der starken Abgrenzungspolitik nicht umgesetzt. Insgesamt ergab sich durch die Referate das Bild einer unentschlossenen Schweiz, die zwischen Deutschfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft wankte, was sich im Handeln von Persönlichkeiten wie den beiden Schweizer Gesandten in Berlin, Paul Dinichert und seinem Nachfolger Hans Frölicher (1938-1945) widerspiegelte. Die Forschung der Referierenden lädt dazu ein, die ambivalente Haltung schweizerischer Entscheidungsträger noch intensiver zu beleuchten.
Panelübersicht:
Fabienne Meyer: Schweizer Diplomatie und Opferschutz während der NS-Zeit
Niels Pohl-Schneeberger: Opferschicksale auf den Schreibtischen der Täter. Die nationalsozialistische Verfolgungspraxis gegenüber ausländischen Jüdinnen und Juden
Susanne Bennewitz: Die schweizerischen Zivilstandsämter und das Nürnberger Gesetz zur «Rassenmischehe»