Verantwortung: Caroline Husquin / Olivier Richard
Referierende: Bianca Frohne / Caroline Husquin / Ninon Dubourg
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Einleitend ins Panel wies OLIVIER RICHARD (Freiburg) auf die Problematik der Erforschung von Menschen mit Behinderungen im Mittelalter und in der Antike hin. Weder das Mittelalter noch die Antike hätten einen Begriff für «Behinderung» gekannt, obwohl Blinde, Stumme oder Taube in den Quellen erwähnt wurden. Oftmals seien diese Menschen aber unter dem Begriff pauperes (dt. «Arme») subsumiert worden. Schon Henri-Jacques Stiker habe darauf aufmerksam gemacht, dass Invalide im Mittelalter Teil der Gesellschaft waren, da Missbildungen als «natürlicher Teil der göttlichen Ordnung» aufgenommen wurden. Für die Geschichtswissenschaft ergäbe sich daraus die Herausforderung, die integrierten und unsichtbaren Menschen mit Behinderungen wieder sichtbar zu machen. Das Panel nahm sich dieser Herausforderung am Beispiel der bildlichen Darstellungen aus den genannten Epochen an.
In ihrem online zugeschalteten Referat beschäftigte sich CAROLINE HUSQUIN (Lille) mit der bildlichen Darstellung von Menschen mit Behinderungen in der römischen und griechischen Antike. Zwar seien diese auf Mosaiken, Vasen und Statuen abgebildet, aber die Funktion dieser Objekte erschliesse sich nicht direkt, da in der Antike kein Begriff für «behindert» existierte. Aus diesem Grund sei der Begriff «körperliche Beschwerden» treffender. Als Beispiele für die bildliche Darstellung von körperlichen Beschwerden nannte Husquin die in Stein gehauenen Skulpturen von äusseren und inneren Organen wie Ohren, Augen und Gebärmütter. Diese hätten in kultischen Riten möglicherweise Verwendung gefunden als Bitte an die Gottheit, das abgebildete Organ zu heilen. Auch Amulette, Statuen und Mosaike, die «bucklige Zwerge» zeigen, seien für Schutzzauber gebraucht worden. Oftmals seien die Personen bewusst grotesk und mit erigiertem Penis abgebildet, um böse Blicke auf sich zu ziehen. Die schadhafte Energie fokussierte sich allerdings auf das Mosaik oder das Amulett und nicht auf seinen Träger oder Besitzer. Dafür spräche die Tatsache, dass Bodenmosaike mit kleinwüchsigen Menschen oftmals im vestibulum (Vorhalle des altrömischen Hauses) zu finden waren, wo Gäste empfangen wurden. Ebenso seien Amulette mitsamt Henkel gefunden worden, auf denen entstellte «Zwerge» abgebildet waren. Allerdings lasse sich der eindeutige Zweck all dieser Quellen nicht zweifelsfrei ermitteln, da schriftliche Zeugnisse fehlen, die den Gebrauch der Amulette dokumentieren würden. Die Ergebnisse der Forschung blieben daher hypothetisch.
Im zweiten Referat widmete sich BIANCA FROHNE (Bremen) der visuellen Darstellung des Body-in-Pain in Hagiographien des 12. und 13. Jahrhunderts. Als methodologischer Zugang diente ihr das Konzept der disability aesthetics Tobin Siebers. Eine Behinderung ist demnach eine Ressource, um Wissen von Mensch zu Mensch weiterzugeben und nicht bloss ein körperliches Defizit. Gleiches gelte für körperliche Schmerzen – dafür gebe es Indizien in den Hagiografien des Früh- und Hochmittelalters. Die Wunderheilungen hätten an Verehrungsorten von Heiligen wie zum Beispiel Schreinen stattgefunden. Der kranke Körper sei zu einem Portal avanciert und der Schmerz zu einem Medium, mit dem das Wissen über die Heilungspraktiken weitergegeben werden konnte. Der Schmerz sei unsichtbar, aber materiell gewesen, als der Ort, an dem die Macht des Heiligen greifen konnte. Nur durch die unangenehme Erfahrung des Leidens hätten die Menschen in den physischen Kontakt mit den heiligen Sphären treten können. Diese Feststellungen fasste Frohne durch die Formel «pain equals embodied knowledge» zusammen. Der Körper, ob behindert oder krank, sei kein Spektakel, sondern ein verbindendes Element, durch das Wissen und Erfahrungen über Wunderheilungen weitergegeben wurden. Siebers Ansatz der disability aesthetics lasse sich deswegen noch weiter verfeinern, um das Verständnis von Krankheit und Behinderung in vormodernen Zeiten besser zu verstehen, folgerte Frohne zum Schluss.
Im dritten Referat beleuchtete NINON DUBOURG (Liège) die Ikonografie von Mobilitätshilfen in den Darstellungen der Wunder des Heiligen Ludwig (König Ludwig IX von Frankreich, 1214-1270). Mobilitätshilfen in Form von Krücken oder einfachen Rollstühlen waren bereits im Mittelalter ein Symbol für Behinderung. Doch entgegen der Meinung von David T. Mitchell und Sharon L. Snyder dürfe man Mobilitätshilfen nicht nur als Symbole oder narratives Element betrachten, sondern auch als Chiffre zum Verständnis des Alltags von Menschen mit Behinderungen. Das zeige sich in zwei Darstellungen der Wunder des Heiligen Ludwigs aus dem mittleren 14. und späten 15. Jahrhundert. Oftmals träten Mobilitätshilfen in einem sozialen Kontext auf, wenn Kranke oder Menschen mit Behinderung mittels Karren durch die Hilfe ihrer Familienmitglieder zum Schrein des Heiligen Ludwig befördert wurden. Daraus schloss Dubourg, dass bereits im Spätmittelalter familiäre Netzwerke existierten, die ihre physisch eingeschränkten Familienmitglieder umsorgten. Auch Krücken seien in unterschiedlichen Kontexten dargestellt, mal als simple Gehilfen, mal als «verlängerte Gliedmasse» der Betroffenen. Es existieren Bilder, in denen die Krücke mittels eines Fadens am Arm des Menschen befestigt ist. Die Mobilitätshilfe sei Teil der Identität der Person gewesen, die in der Gesellschaft als «der Krückenträger» wahrgenommen wurde. Ebenso gehe aus der Ikonografie hervor, dass Krücken von Tischlern hergestellt wurden. Die Menschen des Spätmittelalters, so Dubourg, verfügten somit nicht nur über ein Verständnis für Menschen mit Behinderungen, sondern waren auch in der Lage, sie aktiv auf ihrem Lebensweg zu unterstützen.
Das Panel bot einen interessanten Einblick in die Welt der Antike und des Mittelalters fernab von klassischen Themen wie den Feldzügen Alexanders des Grossen oder den Kreuzzügen. Die Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen in den jeweiligen Epochen wurde vor allem aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive beleuchtet. Das Quellenbild ist dabei keineswegs einheitlich. Wie aus der Diskussion hervorging, bezeugten Hagiografien ausschliesslich vollständige oder Teilheilungen, da die Heilpraktiken mündlich weitergegeben wurden. Es versteht sich, dass niemand den Tod eines Familienmitgliedes nach einer verunglückten Heilung weitererzählte. Ebenso existierten in mittelalterlichen Kirchen Heilungsbücher, in denen die Namen der geheilten Personen an den jeweiligen Schreinen festgehalten wurden, was man als eine Art «mittelalterlichen Telefonalarm» bezeichnen kann. Interessant waren die Fragen und Voten, die sich aus dem Panel ergaben, denn sie vermittelten den Eindruck, dass die Menschen mit Behinderung des Mittelalters vielleicht besser in ihre Welt integriert waren als dies heute in den modernen, leistungsorientierten, kapitalistischen Gesellschaften der Fall ist.
Silvan Schenk
Panelübersicht:
Bianca Frohne: Disability Aesthetics in Medieval Visual Culture. The Body-in-Pain in Illustrated Saints’ Lives (12th-13th c.)
Caroline Husquin: Voir (ou pas) le handicap dans les images antiques
Ninon Dubourg: A Material History of Disability in the Middle Ages. Mobility Aids in the Iconography of the Miracles of Saint Louis