(Un)sichtbares Staatswissen. Geheimhaltungspraktiken im eidgenössischen und süddeutschen Raum (17./18. Jahrhundert)

Author of the report
Amélie
Jaggi
Universität Bern
Citation: Jaggi, Amélie: (Un)sichtbares Staatswissen. Geheimhaltungspraktiken im eidgenössischen und süddeutschen Raum (17./18. Jahrhundert), infoclio.ch Tagungsberichte, 28.07.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0349>, Stand: 30.07.2025

Verantwortung: Jan Haugner / Debora Heim

Referierende: Jan Haugner / Debora Heim / Eveline Szarka

Kommentar: Andreas Würgler

 

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Die Frühe Neuzeit war das «Zeitalter des Geheimnisses» [1], argumentierte DEBORA HEIM (Bern) in Anlehnung an den Historiker Daniel Jütte in ihrer Einführung ins Panel. Frühneuzeitliche Regierungen nutzten Geheimnisse und Geheimhaltungspraktiken auf zwei Arten: Einerseits trugen Geheimnisse zu einer effizienten und effektiven Regierungstätigkeit bei. Andererseits hatten sie auch eine symbolische Bedeutung, da sie den Herrschenden eine geheime und mysteriöse Aura verliehen. Wie Debora Heim und JAN HAUGNER (Bern) betonten, fokussierten sich bisherige Forschungsbeiträge grösstenteils auf die Geheimhaltungspraktiken in frühneuzeitlichen Monarchien. Im Rahmen des SNF-Projekts Republican Secrets. Silence, Memory and Collective Rule in the Early Modern Period beschäftigen sich Heim und Haugner mit den Ausprägungen, Funktionen und Bedeutungen von Geheimnissen und Geheimhaltungspraktiken in kollektiven bzw. republikanischen Systemen. Das Panel sollte Einblicke in ihre aktuelle Forschung bieten und gleichzeitig andere Perspektiven einbeziehen.

Im ersten Beitrag zeigte Jan Haugner anhand von drei konkreten Fallbeispielen auf, wie Staatsdokumente in frühneuzeitlichen Archiven zugänglich gemacht bzw. geheim gehalten wurden. Der sogenannte «Trücklibund» zwischen Frankreich und den katholischen Orten von 1715 sowie das Bündnis zwischen Appenzell Ausserrhoden und der Stadt St. Gallen von 1712 dienten Haugner als Beispiele, um zu zeigen, dass die Existenz von geheimen Verträgen kaum verschleiert werden konnte, die genauen Vertragsinhalte aber unsichtbar gemacht wurden. Der Referent argumentierte weiter, dass die Inhalte folglich nicht nur gegen aussen unsichtbar waren, sondern auch für Mitglieder der Regierung selbst. Er zeichnete am Luzerner Kanzlisten Franz Joseph Felber die Trennlinie zwischen obrigkeitlich tolerierter Normenübertretung und inakzeptablem Sicherheitsrisiko durch das Archivpersonal nach. Der Fall Felber zeige, dass das tolerierbare Sicherheitsrisiko dort endete, wo die Dokumente selbst entwendet und somit für Unbefugte sichtbar bzw. für den Staat selbst unsichtbar wurden. Als letztes Fallbeispiel griff Haugner den Appenzeller Landteilungsbrief von 1597 auf, der festhielt, dass die Archivdokumente, die beide Landesteile betreffen, in Innerrhoden verbleiben. Die Abschriften sowie einen Schlüssel zum Archiv sollte aber an Ausserrhoden übergeben werden, was laut Haugner allerdings nie passierte. Der Konflikt um den Schlüssel entfachte im Jahr 1896 erneut, da Ausserrhoden den Schlüssel nicht finden konnte. Erst nach einer Inventarisierung des Archivs in Innerrhoden kamen die beiden Halbkantone 1904 zu einer freundschaftlichen Lösung, bei der Ausserrhoden den zweiten Schlüssel und die Abschriften mit über 300 Jahren Verspätung erhielt. Für Haugner belegt das Beispiel die Bedeutung, die die symbolische Macht des Zugangs zu Archivalien auch nach dem Ende der Frühen Neuzeit weiterhin hatte.

In ihrer Präsentation stellte Debora Heim die Entstehung, Funktion und Tätigkeiten der Geheimen Räte in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft vor. Im 16. und 17. Jahrhundert entstanden in fast allen Orten der Eidgenossenschaft sogenannte Geheime Räte, die sich aus den höchsten Amtsträgern der Regierung rekrutierten und kleinere Ausschüsse der anderen Räte bildeten. Diese kleinen Gremien konnten gewisse Geschäfte schneller und effizienter bearbeiten und so die grösseren Räte entlasten. Durch die kleinere Mitgliederzahl, die eine bessere Geheimhaltung versprach, entwickelten sich die Geheimen Räte zudem zu Zentren der verborgenen Information und Kommunikation. Geheimhaltung war auch in der alten Eidgenossenschaft Teil des obrigkeitlichen Selbstverständnisses und ein notwendiges Regierungsinstrument, befand sich aber in einem Spannungsverhältnis mit der Souveränität der kollektiven Regierung. Im zweiten Teil präsentierte Heim konkrete Geheimhaltungspraktiken. Die katholischen Orte Freiburg, Solothurn und Luzern standen im 17. Jahrhundert in engem Kontakt und tauschten regelmässig Informationen aus. Allerdings waren die Orte geografisch durch das Territorium von Bern getrennt. Um geheime Informationen sicher zu übermitteln, entwickelten die drei Bündnispartner ein geheimes Alphabet zur Verschlüsselung ihrer Korrespondenzen sowie geheime Wortzeichen (Plättchen aus verschiedenen Materialen), die jeweils eine spezifische Bedeutung hatten. Zusätzlich wurden die Boten über vorgeschriebene Routen geschickt und trugen belanglose Briefe zur Tarnung bei sich. Abschliessend argumentierte Heim, dass die Geheimen Räte nicht nur für eine effizientere Regierungstätigkeit eingesetzt wurden, sondern auch für die Erarbeitung von konkreten Lösungen, um Geheimnisse besser zu wahren und Informationen im Vertrauen auszutauschen.

 

Geheime Alphabete bzw. Codes und Chiffren zur manuellen Verschlüsselung von Korrespondenzen standen auch im Zentrum des Beitrags von EVELINE SZARKA (Zürich). Die Präsentation basierte auf einem speziellen Archivfund: den geheimen Codebücher des Markgrafen Friedrich VII. Magnus von Baden Durlach (r. 1678-1709). Szarka argumentierte, dass der Markgraf auf enge Verbündete und ein funktionierendes Geheimhaltungssystem angewiesen war, da es während seiner Regierungszeit verschiedene Unruhen gab und er mehrfach ins Exil fliehen musste. Die Codebücher sind als handschriftliche Vorlage sowie als unbeschriftete und gebrauchte Bücher in zwei Versionen überliefert. Typ A war in den Jahren 1678 bis 1694 in Gebrauch, umfasste ca. 10'000 Codes und neun Seiten mit Chiffren. Typ B (1705/06) war noch komplexer, da eine homophone Alphabetisierung, das heisst mehrere Codes für ein Wort, eingeführt wurde. Szarka wies darauf hin, dass kompliziertere Systeme die Sicherheit zwar erhöhen, gleichzeitig aber die Alltagstauglichkeit und Praktikabilität verringern. Erste Untersuchungen zeigten, dass die distinkten Codebücher, die mit verschiedenen Symbolen markiert waren, an einen ausgewählten Kreis von Personen – Mitglieder des Geheimen Rates, Familienangehörige und Verbündete im Ausland – verschickt und später vom Markgrafen wieder zurückverlangt wurden. Abschliessend hielt Szarka fest, dass bisher keine Codebücher bekannt sind, die im Umfang mit denen des Markgrafen von Baden Durlach vergleichbar wären, dass aber derzeit viele Fragen noch offen sind.

In seinem Kommentar wies ANDREAS WÜRGLER (Genf) darauf hin, dass der Titel des Panels vom Leitthema der Schweizerischen Geschichtstage inspiriert worden sei, da die Arten des Staatswissen, die Gegenstand der Beiträge waren, in der Regel eher mit Begriffen wie geheim oder arkan umschrieben werden. Bei allen drei Beiträgen handle es sich um den Zugang bzw. Ausschluss von Information und Wissen – also Geheimnissen im Sinne von secretum. In den oralen Gesellschaften der Frühen Neuzeit war unsichtbares Wissen häufig auch unhörbares Wissen und wurde in den Geheimhaltungspraktiken entsprechend mitberücksichtig, so Würgler weiter. Die Beiträge untersuchten sowohl kollektive als auch monarchische Regierungssysteme, die in Bezug auf die angewandten Geheimhaltungspraktiken Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufweisen. Würgler bemerkte mit Blick auf die Archivpraktiken, dass zwar die geheimen Verträge im Archiv unsichtbar waren, das Archiv selbst aber sichtbar blieb. Er betonte ebenfalls, dass es insbesondere im 18. Jahrhundert zu einer Dialektik zwischen den zunehmenden obrigkeitlichen Drucken und der Unsichtbarmachung von bestimmten Dokumenten in den Archiven kam. In seinem Fazit warf Würgel unter anderem die Frage auf, inwieweit und inwiefern die präsentierten Geheimhaltungspraktiken tatsächlich zur Anwendung kamen, da die Dauer der Geheimhaltung sowie die Ambivalenz zwischen Sicherheit und Praktikabilität mitberücksichtigt werden müssen. Die Oralität der frühneuzeitlichen Gesellschaften würde in Bezug auf die Geheimhaltungspraktiken quellenkritische Herausforderungen mit sich bringen, da die Gefahr bestehe, das noch Sichtbare überzubewerten und das unsichtbar Gebliebene zu vernachlässigen.


Anmerkungen

1Jütte, Daniel: Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400-1800), Göttingen 2011.


Panelübersicht

Jan Haugner: Zugänglichkeit und Geheimhaltung von Staatsdokumenten in Archiven derfrühneuzeitlichen Eidgenossenschaft

Debora Heim: Geheime Räte in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft

Eveline Szarka: Die geheimen Codebücher des Markgrafen – Der Fall Baden Durlach (1677–1709)

Andreas Würgler: Kommentar

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.

Event
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organised by
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Event date
-
Place
Luzern
Language
German
Report type
Conference