Verantwortung: Silvan Schenkel / Filippo Contarini / Michele Luminati
Referierende: Silvan Schenkel / Nicole Schraner / Peter Techet
Kommentar: Filippo Contarini
Die Rechtsgeschichte, ein fast schon vergessener Teil der Geschichtswissenschaft, solle durch dieses Panel mehr Sichtbarkeit erhalten – mit diesem Anliegen eröffnete MICHELE LUMINATI (Luzern) das Panel.
SILVAN SCHENKEL (Luzern) stellte im ersten Beitrag die Frage, welche Rolle politische Prozesse bei Aushandlungen und Visualisierungen politischer Bewegungen spielen. Einleitend bemerkte er, dass das politische Strafrecht nach 1945 in der Schweiz bis jetzt kaum untersucht wurde und dies, obwohl die Bundesanwaltschaft nach dem Zweiten Weltkrieg einen vergleichsweise grossen «Werkzeugkoffer» hatte und diesen auch nutzte, wie der vorgestellte Fall Emil Arnold exemplarisch zeigt. Emil Arnold, nach dem Zweiten Weltkrieg Nationalrat für die Partei der Arbeit (PdA), hielt im Mai 1951 eine Rede vor dem Exekutivkomitee der Internationalen Journalistenorganisation in Budapest. In dieser Rede kritisierte er die schweizerische Neutralitätspolitik, stellte die Schweiz als Zentrum amerikanischer Spionage dar und forderte eine Liste von sogenannten Kriegshetzern. Dies führte in der Schweiz zu einer Anklage wegen Landesverrat und Staatsverleumdung. Schenkel erklärte, dass der «Staatsverleumdungsparagraf» 266bis des StGB Ähnlichkeit mit dem entsprechenden Paragrafen des NS-Regimes hatte. Der Prozess gegen Emil Arnold wurde medial ausgeschlachtet: zum einen von der bürgerlichen Presse wie der NZZ, zum andern von der PdA, die sich als Landesverräter-Partei abgestempelt sah und diesen Vorwurf zurückwies. Die Verteidigungsstrategie von Arnolds Anwälten war sehr offensiv und politisch geprägt, so wurde der Vorwurf der Klassenjustiz vorgebracht und das Verfahren genutzt, um Kritik am genannten Paragrafen zu formulieren. Nichtsdestotrotz wurde Arnold in Basel zu acht Monaten Gefängnis und zur Einstellung der bürgerlichen Ehrenfähigkeit für zwei Jahre verurteilt. Als Reaktion führte die PdA die Verteidigungsstrategie weiter und sprach von einem «Klassenurteil». Die bürgerliche Presse hingegen fand das Urteil angemessen und war erleichtert über das Ende der Verhandlungen. Schenkel schätzt den Prozess um Emil Arnold als politischer wie auch rechtlicher Kampf um Wahrheiten und Deutungshoheiten im Kontext der schweizerischen Neutralitäts- und Sicherheitspolitik ein. Auch die Verteidigungsstrategie sei bemerkenswert, da der Angeklagte zum Ankläger wurde. Er schloss sein Referat mit der Anmerkung, dass die Pressefreiheit juristisch an die Wahrheitspflicht der Presse gekoppelt ist.
NICOLE SCHRANER (Luzern) stellte im anschliessenden Referat die Sichtbarkeit der politischen Justiz in Zeiten des Umbruchs in den Mittelpunkt. Dies tat sie anhand der Gerichtsfotografie in der Weimarer Republik. Die Gerichtsfotografie entstand Ende der 1920er Jahre, zuvor waren schriftliche Gerichtsberichterstattungen in den Zeitungen aber bereits omnipräsent. Zeitgleich war auch eine bewusste Instrumentalisierung von Gerichtsprozessen durch Parteien im Gange. Mit der ab 1928 beginnenden Veröffentlichung von Gerichtsfotografien in partei-illustrierten Zeitungen fanden diese Instrumentalisierungen einen weiteren Boom. Dies zeigte Schraner an zwei Beispielen auf: Zuerst ging es um die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), die von 1928-1933 regelmässig Gerichtsfotografien unter dem Vorzeichen der Klassenjustiz abbildete. Nicht ein bestimmter Prozess, sondern die Vielzahl der Prozesse sollten die beklagte Klassenjustiz aufzeigen. Des Weiteren machte die AIZ auch Bildreportagen, die die Unterschiede in Prozessen gegen linke und rechte Angeklagte aufzeigen sollten. Dabei wurde mit stilistischen Mitteln gearbeitet, indem die Mitglieder des Proletariats niedergeschlagen und die Richter bei einem Schuldspruch glücklich dargestellt wurden. Vorrangig zielten diese Reportagen auf eine Emotionalisierung, wobei zusätzlich auch eine Kritik am Justizwesen und am Staat zu beobachten war. Aber auch die rechte Seite des politischen Spektrums brauchte Bilder, um Emotionen zu erzeugen. Federführend war hierbei der Illustrierte Beobachter (IB), wie Schraner in der zweiten Fallstudie ausführte. Dieser habe vor allem darauf abgezielt, einen grossen Zuspruch zu rechten Parteikadern und Angeklagten in der Bevölkerung abzubilden. Dazu wurden beispielsweise Bilder von Joseph Goebbels vor Gericht wie auch bei einem Siegesmarsch gezeigt und damit suggeriert, dass Goebbels zu Unrecht vor Gericht stehe. Auch Adolf Hitler wurde in Gerichtsbildern gezeigt, ebenso mit Menschenmengen, die visualisieren sollten, wie stark sein Rückhalt in der Bevölkerung war. Abschliessend lässt sich festhalten, dass die Gerichtsfotografie zur Dokumentation diente, zugleich aber auch als politische Bühne genutzt wurde. Das Gericht wurde also zu einem Ort des politischen Kampfes und dadurch die Autorität der Justiz zunehmend untergraben. In einem Ausblick auf die folgenden Jahre erklärte Schraner, dass in der NS-Zeit nur noch genau ausgewählte Schauprozesse fotografiert werden durften.
PETER TECHET (Krems / Zürich) legte seinen Fokus auf den Schattendorfprozess von 1927 in Österreich. In einem kurzen Input zur damaligen politischen Lage führte er aus, dass Schattendorf im Burgenland liegt, dem damals neben Wien einzigen von den Sozialdemokraten regierten Bundesland. Österreich habe sich damals in einer tiefen Sinnkrise befunden: Von links bis rechts habe man sich die Frage gestellt, wieso man überhaupt existiere. Auch der Anschluss an Grossdeutschland sei nur von den Christlichsozialen abgelehnt worden und lediglich aufgrund der Siegermächte des Ersten Weltkriegs nicht möglich gewesen. In dieser schwierigen politischen Zeit hatten jegliche Parteien paramilitärische Gruppen, wodurch das Gewaltmonopol des Staates infrage gestellt wurde. In dieser Konstellation spielte sich also der genannte Prozess ab. Auslöser war ein Aufmarsch der rechtsnationalen Frontkämpfer in Schattendorf. Als der republikanische Schutzbund einen Gegenaufmarsch startete, verschanzten sich die Frontkämpfer in einem Wirtshaus. Aus diesem flogen Schüsse, dabei starben zwei Menschen. Mord oder Notwehr, diese Frage beschäftigte anschliessend die Öffentlichkeit. Die Sozialdemokraten konnten die Schüsse geschickt inszenieren und es gelang ihnen, während dem Begräbnis einen 15-minütigen Generalstreik zu organisieren. Vor dem Wiener Landesgericht wurden drei Frontkämpfer angeklagt. Über die Schuldfrage entschieden wie damals üblich Geschworene. Die Sozialdemokraten, die sich für die Geschworenengerichte ausgesprochen hatten, hofften auf einen Schuldspruch, wurden aber enttäuscht, als es zu einem einstimmigen Freispruch kam. Die erste Reaktion auf diesen Freispruch war ein Strassenbahnstreik in Wien. Die Arbeiterzeitung heizte die Stimmung mit einem Artikel, in dem sie dem Staat vorwarf, sich auf die Seite der «Mörder» zu stellen, weiter auf. Auch hier wurde der Vorwurf der Klassenjustiz erhoben. Einen Tag nach dem Freispruch kam es in der Wiener Innenstadt zu heftigen Protesten durch die Arbeiterschaft: Die Polizei ging brutal gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vor, der Justizpalast wurde in Brand gesetzt, es gab Tote und Verletzte. Der Justizpalast war Techet zufolge ein Symbol für die ungelöste Eherechtsfrage und die dort aufbewahrten Grundbücher seien Zeichen kapitalistischer Verhältnisse. Der Angriff auf den Justizpalast sei also in einem grösseren Zusammenhang zu betrachten. Weiter beleuchtete Techet die Ambivalenz der Sozialdemokratie: Die Partei unterstützte zwar die Arbeiterschaft, aber die Demonstrationen zeigten auch auf, wie die Kontrolle über die Arbeiterschaft verloren ging. Ambivalent war für die Sozialdemokraten zudem die Geschworenengerichtsbarkeit, die sie als Demokratisierung der Justiz unterstützten, wobei die Geschworenen aber oft eher klerikal-rechts eingestellt waren. So wurde das Urteil gegen die Frontkämpfer zu einer Klassenjustiz umgedeutet und der Vorwurf konstruiert, die Geschworenen kämen alle aus der Bauernschicht und hätten sich daher auf die Seite der Frontkämpfer gestellt
In einem kurzen Input verband FILIPPO CONTARINI (Lausanne) die drei vorangehenden Referate mit der Suche nach Wahrheit. So habe man im Prozess gegen Emil Arnold die Wahrheit dem Angeklagten und nicht den Anklägern zugesprochen, im Weimarer Beispiel hätten die Fotos aus den Gerichtssälen als Wahrheit gegolten und im Schattendorfprozess sei der Justiz vorgeworfen worden, nicht mehr das «Volk» zu vertreten, was zu den gewalttätigen Reaktionen geführt habe, führte Contarini aus.
Aus dem Panel ging hervor, dass über alle drei Referatsthemen – politische Prozesse in der Schweiz der Nachkriegszeit, Gerichtsfotografie in der Weimarer Republik und den Schattendorfprozess in Österreich – noch wenig geforscht wurde. Zudem fehlt diesen Themen teils noch die Sichtbarkeit, wie dies allgemein für die Rechtsgeschichte gilt.
Panelübersicht:
Silvan Schenkel: Aushandlung & (Un-)Sichtbarmachung von Sagbarkeitsgrenzen in politischen Strafverfahren – eine rechtshistorische Analyse staatlicher Kommunikationskontrolle durch politisches Strafrecht in der Schweiz im 20. Jahrhundert
Nicole Schraner: Bilder des Rechts. Gerichtsfotografie und Justizkritik in der Weimarer Republik
Peter Techet: (Ge-)rechtes Urteil? Wahrnehmung und Darstellung des Schattendorfer Prozesses in Österreich (1927)