Verantwortung: Sarah-Maria Schober
Referierende: Camille Schneiter / Ada Arendt / Isabelle Schürch
In den Multispezies-Ansätzen gehe es um die Wahrnehmung und Sichtbarmachung von nichtmenschlichen Lebewesen und damit einhergehender Aspekte, wie die Panelverantwortliche SARAH-MARIA SCHOBER (Zürich) einführte. Die Relevanz dieser jungen Methodik sowie der untersuchten Subjekte liege unter anderem darin, dass die Frage, warum bestimmte Lebewesen stärker wahrgenommen werden als andere, auch jene nach versteckten Machtmechanismen eröffne. Sichtbarkeit habe auch damit zu tun, wie Hierarchien aufgebaut sind.
Die Panelteilnehmerinnen gliederten ihre Beiträge auf innovative Weise in drei Runden: Zunächst stellten sie ihre Beiträge aus einer klassisch-methodischen Sicht1 vor, gefolgt von einer Betrachtungsweise aus dem Multispezies-Ansatz heraus, um schliesslich dessen Potenziale und Chancen hervorzuheben.
Einführung im «klassisch-methodischen Sinn»
ISABELLE SCHÜRCH (Bern) führte die Zuhörenden in der ersten Runde an die Geschichte eines Wurmsegens aus einem Gebetsbuch der Hermetschwiler Benediktinerinnen2 aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts heran. Schürch bezeichnete das Gebetsbuch als Zeugnis spätmittelalterlicher, weiblicher Frömmigkeit, das Einblicke in die tagtägliche Nutzung von Handschriften erlaube. So enthalte es nicht nur Gebete, sondern allerlei Anleitungen, Heilsegen und Heilzauber. Mit diesem praktischen Alltagsratgeber hätten sich die Benediktinerinnen sowohl bei Husten als auch beim Schutz der Ernte zu helfen gewusst. Die Abnutzungsspuren am Gebetsbuch zeugten, so Schürch, vom regen Gebrauch und damit der Alltäglichkeit des Gegenstands. Der Segen für und nicht etwa gegen den Wurm diene als kurioses Beispiel dafür, wie Menschen durch Segen und Beschwörungen Gottes Hilfe anriefen.
ADA ARENDT (Oslo) wandte den Multispezies-Ansatz auf eine gänzlich andere Quellenart an: landwirtschaftliche Abhandlungen, Handbücher und Almanache aus der frühen Neuzeit. Die von ihr als household literature bezeichneten Quellen hätten neben Erntekalendern auch Anweisungen zur Arbeitsorganisation oder der Pflege von Pflanzen enthalten. Kurzum: hilfreiche Informationen und Anmerkungen für die Führung eines Haushaltes. Unter der «klassischen» Linse werde, so Arendt, der Haushalt als «Miniatur-Staat» gelesen, geleitet vom Patriarchen durch Moral und Ordnung. Diese Sichtweise simplifiziere jedoch den Inhalt der household literature und reduziere diese auf die darunter liegende Figur des Patriarchen. Arendt sah hingegen die Gelegenheit, mit dem Multispezies-Ansatz ein differenziertes Verständnis von zentralen Konzepten wie Gesellschaft, Familie, Fürsorgepflichten und der Pflege für die Umwelt zu gewinnen.
CAMILLE SCHNEITER (Zürich) stellte in ihrem Beitrag Teile ihres Doktoratsprojekts vor, in dem sie sich mit der Geschichte der sogenannten Neobiota auseinandersetzt. Anders als Schürch und Arendt verzichtete Schneiter auf eine Einführung in die Thematik aus einer klassisch-historischen Sicht, da ihr interdisziplinäres Projekt einer begrifflichen Einführung bedürfe. Die Referentin definierte Neobiota als gebietsfremde Arten – wobei der Begriff jegliche Arten umfasse, die sich seit der «Entdeckung Amerikas» 1492 in neuen Gebieten angesiedelt hätten. Trotz teilweise langer Migrations- und Ansiedlungsgeschichte würden diese in offiziellen Biodiversitätserfassungen der Schweiz nicht berücksichtigt, da sie nicht zu den vordefinierten Spezies gehören, wie Schneiter ausführte. So würden etwa Wolf-Hund-Hybride nicht als neue Spezies, sondern als genetisch unreine Neobiota betrachtet, die es aus der heimischen Biodiversität zu entfernen gelte. Neobiota können gemäss Schneiter jedoch durchaus Teil der Geschichte der heimischen Artenvielfalt sein. Durch die Schweizer Praxis werden diese aber unsichtbar gemacht. So zielt Schneiter darauf ab, den Begriff der «Spezies» zu historisieren und damit Beziehungen und Konstellationen von Lebewesen sichtbar zu machen.
Linse durch den Multispezies-Ansatz
Das Gebetsbuch der Hermetschwiler Benediktinerinnen wurde unter dem Multispezies-Ansatz in der zweiten Runde nicht nur zum Träger des historischen Inhalts, sondern zum Untersuchungsobjekt selbst. So wies Schürch auf die deutlich sichtbaren Gebrauchsspuren hin, die von diversen menschlichen und nichtmenschlichen Aktivitäten zeugen – letztere werden üblicherweise nicht als Teil der historischen Arbeit verstanden. Die Referentin machte hingegen die Spuren von Mehlwürmern sichtbar, die ihre ganz eigene Geschichte auf dem historischen Gegenstand hinterlassen haben. Aus dem anthropozentrischen Blickwinkel sei die Beziehung zwischen Mensch und Tier eine gänzlich asymmetrische: Der Wurm sei Parasit, besetze den Körper des Wirts und stelle damit eine Bedrohung dar. Schürch betrachtete diesen Wurmsegen jedoch als Mittel der Interaktion. Der Wurm werde darin nicht zum Parasiten, sondern zum geteilten Gast; es handle sich nicht um eine Exkommunikation, sondern um ein «kommunikatives Geflecht» zwischen Menschen und Tieren.
Arendt zeichnete in ihrem Multispezies-Ansatz eine musikalische Metapher: Die Vorschriften, Tugenden und guten Ratschläge aus der von ihr untersuchten household literature wurden dabei zu autonomen Melodien, die sich als mehrstimmige, auf verschiedenen Zeitebenen befindlichen Elementen («polyphonic temporalities») zu einer «choreography of care» verbanden. In diesem synchronisierten Miteinander von Mensch und Tier zum Zweck der Pflege des Haushaltes führte Arendt vielschichtige Fragen zutage. Diese Betrachtungsweise ermögliche es, gänzlich andere Beziehungsmuster zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren, menschlichen wie nichtmenschlichen, zu erkennen. Arendt zu Folge würden zu unterschiedlichen Zeitpunkten weitere Stimmen in dieses immerzu zirkulierende Miteinander von Zeitmustern eintreten und sich zunehmend miteinander synchronisieren. Der Kalender werde so zum System der Selbstorganisation, um mit den Unsicherheiten umzugehen, die durch diese konstante Rekalibrierung der Beziehungen untereinander entstehen.
In Schneiters Multispezies-Ansatz standen die Beziehungen zwischen den Wolf-Hund-Hybriden und den Menschen im Fokus. Ihr Ziel sei es, die Menschen als Teil der Natur zu betrachten. Durch die Gleichstellung der menschlichen und nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteure komme auch den Tieren Handlungsmacht zu. Die Referentin berichtete, dass sie ihm Rahmen ihres Doktorats einige Zeit ein von Verhaltensbiologinnen und -biologen geführtes Projekt begleitet habe. Ziel des Projekts sei gewesen, eine in Gefangenschaft lebende Gruppe von Wolf-Hund-Hybriden zu beobachten und Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit Hunden und Wölfen festzustellen. Schneiter beobachtete ihrerseits sowohl die Forschenden als auch die Tiere. Sie hielt fest, dass die Forschenden zu den Hybriden zwei unterschiedliche Beziehungen pflegten: die eine war zutraulich und freundschaftlich, die Hybride wurden zu gleichwertigen Lebewesen, denen Namen gegeben und individuelle Charaktere zugeschrieben wurden. Die zweite Relation bestand gänzlich zwischen den Forschenden und dem Forschungssubjekt. Der ersten Beziehung wurde im Gegenzug zur zweiten keinerlei wissenschaftliche Bedeutung verliehen. Die nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteure wurden lediglich auf ihre Genome reduziert, die Zuschreibung einer eigenen Handlungsmacht oder die Fähigkeit sozialen Lernens wurde nicht angenommen. Durch das Verschweigen der eigenen Beziehung zu und persönlichen Wahrnehmung der nichtmenschlichen Akteurinnen und Akteure komme es gemäss Schneiter zur «menschlichen Unsichtbarmachung». Um nichtmenschliche Akteurinnen und Akteure und deren Handeln zu historisieren, müssen Schneiter zufolge die Beziehungen aller Akteurinnen und Akteure gleich und damit sichtbar gemacht werden. Dies gelinge nur, wenn auch der Mensch in diesen Konstellationen berücksichtigt werde.
Potenziale von Multispezies-Ansätzen
Die Anerkennung von Parasitismus als Kohabitation ermöglichte Schürch, in der dritten Runde über spätmittelalterliche Körpergrenzen nachzudenken. Betrachte man die vorliegenden Beziehungen, statt eine simple Einordnung der Lebewesen in systematische Kategorien vorzunehmen, ergäben sich neue Blickwinkel. In ihrem Beispiel werde der Wurm zum Problem, weil er die Grenzen zwischen den Körpern verschiebe. Darin lägen Prozesse von Ordnung und Unordnung, die es zu meistern gelte.
Arendts Betrachtung der household literature als eine «choreography of care» mache Pflegepraktiken sichtbar, so die Referentin. Diese würden konstant zeitlich synchronisiert, anstatt um Moral und Ethik herum organisiert. Daraus ergebe sich für die Analyse von Beziehungen und Machtstrukturen ein vielschichtiges Bild.
Schneiter legte dar, dass sie mit biotischer Geschichte die Grenzen historischer Akteurschaft aufbrechen wolle. Ein biotisches statt anthropozentrisches Naturverständnis eröffne die Möglichkeit, neue Konzepte zu entwickeln. Klassifikationen könnten damit an nichtmenschliche Akteurinnen und Akteure statt an menschliche Institutionen angepasst werden. Ob sich das von ihr vorgeschlagene Verständnis von Natur durchsetzen könne, sei jedoch davon abhängig, welche Form von Natur menschliche Institutionen zu schützen beabsichtigen.
Die Panelteilnehmerinnen überzeugten durch ihre innovative Herangehensweise an drei gänzlich unterschiedliche Themen und zeigten, dass mit neuen Methoden viel Licht auf bisher unsichtbare Elemente von Forschungsobjekten geworfen werden kann. Besonders Schneiters Projekt stach durch seine Interdisziplinarität und kreative Methodik hervor.
Anmerkungen
1 Damit beziehen sich die Referentinnen auf traditionelle und standardisierte methodische Herangehensweisen der Geschichtswissenschaft.
2 o. A., Prayer Book, Sarnen, 15. Jh., Hermetschwil, Benediktinerinnenkloster, Signatur: Cod. Chart. 208. Online: <https://www.e-codices.ch/en/list/one/hba/chart0208>, Stand: 22.07.2025.
Panelübersicht
Isabelle Schürch: Of Worms and Vermin. How Multispecies are our European Middle Ages?
Ada Arendt: Homo Curans or How to Study Early Modern Multispecies Care
Camille Schneiter: Neue «Spezies» im Anthropozän: Die Unsichtbarkeit von Neobiota in der Schweiz
Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.