Kriminelle Ökonomien: (Un)Sichtbarkeit als Effekt, Objekt und Chance

Author of the report
Basil
Gallati
Universität Zürich
Citation: Gallati, Basil: Kriminelle Ökonomien: (Un)Sichtbarkeit als Effekt, Objekt und Chance, infoclio.ch Tagungsberichte, 12.08.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0401>, Stand: 20.08.2025

Verantwortung: Peter-Paul Bänziger / Maurice Cottier

Referierende: Sonja Dolinsek / Gian Nicola Philipp / Nora Lehner

 

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Konzise und direkt stellte PETER-PAUL BÄNZIGER (Basel) die Referierenden vor, um ihnen so viel Redezeit wie möglich zu überlassen. Gemeinsam war den drei Beiträgen der kritische Blick auf frag­würdige Narrative der Ökonomie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere der Fokus auf die juristischen Massnahmen gegen kriminelle Ökonomien einte die Forschenden, wobei das Ziel immerzu die Sichtbarmachung von «unsichtbaren» Missständen war, die juristisch schwer fassbar sind. Denn bevor unsichtbares Übel bekämpft werden kann, muss es sichtbar gemacht werden.

SONJA DOLINSEK (Magdeburg) beleuchtete die Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels von 1949 und deren vermeintlichen Erfolge in der Bekämpfung des Phänomens. Sie vermutete, dass der Rückgang und die erklärte «Abwesenheit» des Menschenhandels bis in die 1980er Jahre nur be­grenzt auf die Effektivität des internationalen Konsenses zurückzuführen, sondern vielmehr eine Unsichtbarmachung des bekämpften Verbrechens die Folge des Beschlusses gewesen sei. Dolinsek orientierte sich hierbei an einer problemorientierten Globalgeschichte, um den transnationalen Menschenhandel zwischen 1949 und 1980 zu erfassen, da die Forschung diesen Zeitraum bis anhin vernachlässigt hat. Anfangs der 1950er Jahre fand in Europa noch eine letzte Kampagne gegen «weisse Sklaverei» statt, wobei insbesondere Frankreich angelastet wurde, durch den lockeren Bor­dellbetrieb die Versklavung und den Verkauf weisser Menschen zu ermöglichen. Gemäss Dolinsek sei dies nach dem Abkommen von 1949 in Publikationen kaum noch thematisiert worden und aufgrund der UN-Fragebögen zum Menschenhandel liege die Vermutung nahe, dass dieses transnationale Ver­brechen schlichtweg aufgehört habe, zu existieren. Dolinsek ist in ihrer Untersuchung jedoch auf Einzelfälle gestossen, die durchaus als Menschenhandel hätten gefahndet werden müssen. Die Behörden hätten nach 1949 den Menschenhandel jedoch nur noch durch eine lokale Perspektive betrachtet, wodurch der transnationale Charakter einzelner Fälle verkannt worden sei. Weiter standen zu dieser Zeit der Kalte Krieg und der Kampf gegen den Drogenhandel im Fokus der Weltpo­litik, während «kleinere» Probleme aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt worden seien. Dolinsek folgerte, dass der Menschenhandel zu keiner Zeit gänzlich verschwunden, sondern vielmehr fast 30 Jahre lang ignoriert worden sei. Insgesamt sei der Menschenhandel nicht nur in der Geschichte, sondern auch in seiner Rezeption unsichtbar gemacht worden.

GIAN NICOLA PHILIPP (Basel) fragte ChatGPT, warum James Bond im Film Goldfinger in der Schweiz zu sehen sei – und erhielt eine Reihe aufschlussreicher Antworten: Von Skifahren über Luxustouris­mus bis hin zur erwarteten Pointe der «Schweizer Finanzzentren». Unterhaltungsmedien wie der 1964 erschienene Bondfilm zerrten die Schweizer Banken ins Scheinwerferlicht der Popkultur. Mit der 1968er Bewegung folgte harte Kritik am Bankenwesen, das als Schnittstelle imperialer Geldflüsse und Geldwäscherei aufgefasst wurde. Die «Aktion Finanzplatz Schweiz» (AFP) setzte sich dafür ein, die Übel des schweizerischen Bankenwesens aufzudecken. Sie forderte «gläserne Banken», um die als unmoralische kritisierte Ökonomie zu bekämpfen, die totalitäre Regime im globalen Süden mut­masslich finanzierte. Über die Sichtbarmachung der ökonomischen «Dunkelkammer» entschied in der Zeit zwischen 1978 und 1984 schliesslich die Eidgenössische Volksinitiative «gegen den Miss­brauch des Bankengeheimnisses und der Bankenmacht», die sich gegen Steuerhinterziehung, Verschleierung von Vermögen und Verwaltung von Geldern aus korrupten Quellen richtete. Aufgrund der starken Wirtschaftslobby musste die AFP bei der Abstimmung jedoch eine schwerwiegende politische Niederlage hinnehmen. Mit dem Alternativen Bankbüchlein und der «alternativen Bank» gab es daraufhin Bestrebungen, trotzdem zu einer ethischen Bankenpraxis zu gelangen. Da die Teilnahme freiwillig war, hätten derartige Projekte jedoch nur einen begrenzten Effekt gehabt, so Philipp. Änderungen seien nahezu ausschliesslich durch ausserpolitischen Druck erfolgt. Erst durch das Engagement der EU und den USA seien die Gesetze gegen Geldwäscherei 1998 im «Waschsalon Schweiz» verschärft worden. So zeichnete der Referent ein ernüchterndes Bild der schweizerischen Innenpolitik und folgerte aus seinen Beobachtungen, dass aus der Forderung zu «gläsernen Banken» die Forderung nach einer «gläsernen Kundschaft» geworden sei. Dadurch sei die Verantwortung zur Sichtbarmachung von Unrecht auf die Bankkundinnen und Bankkunden abgewälzt worden.

NORA LEHNER (Wien) analysierte den polizeilichen Diskurs in Wien zum Täterprofil des Zuhälters von den 1960ern bis in die 1980er Jahre. Bis 1974 liefen die Delikte Prostitution und Zuhälterei unter dem «Vagabundengesetz» von 1885 unter stark veralteter Rechtslage. Nach Lehner hatte die Wiener Polizei den Akteur «Zuhälter» vor 1970 kaum im Blick, weil die Zuhälterei als «Krisenkriminalität» der Nachkriegszeit aufgefasst worden sei. Der Tätertyp war für die Polizei ein arbeitsloser und mittel­loser Mann, dem nachgewiesen werden konnte, dass er sich über die Prostitution seiner Partnerin finanzierte. Doch Ende der 1960er tauchte ein neuer Typ des Zuhälters auf, der keine romantischen Beziehungen mit den Prostituierten mehr führte, sondern Revierkämpfe austrug, transnational mit Drogen handelte und gute Kontakte in die Unterwelt pflegte. Die Sichtbarmachung dieses Zuhälter­typs und seiner «Wohlstandskriminalität» sei nicht nur juristisch zu fassen, sondern müsse auch soziopolitisch und geschlechtergeschichtlich aufgearbeitet werden, forderte Lehner. Betrachte man die städtebaulichen Transformationsprozesse der 1960er Jahre in Wien, so werde ersichtlich, dass die öffentliche Verkehrsinfrastruktur in den Untergrund verlegt wurde und dadurch zahlreiche Freiräume für Jugendliche verschwanden. Gesellschaftlich habe sich die «Kernfamilie» laut Lehner als massgebliches familiäres Konzept durchsetzen können. Darüber hinaus habe die Wirtschaftswundergesellschaft die mangelnde Arbeitsmoral und den luxuriösen Lebensstil der Zuhälter verteufelt. Auf Papier habe sich die Polizei bemüht, der transnational vernetzten Zuhälter­szene habhaft zu werden, doch die gesetzlichen Änderungen von 1974 trafen vorwiegend die Prosti­tuierten: Ihnen wurde verboten, sich mit Zuhältern zu treffen. Gegen die «Zuhälterschlachten», wie die Revierkämpfe von den wienerischen Boulevardzeitungen genannt wurden, war damit wenig getan.

Die erste Wortmeldung in der darauffolgenden Diskussionsrunde richtete sich an Lehner und hatte die Beziehungen der Zuhälterkreise in Wien zu Hamburg zum Gegenstand. Thematisiert wurde die Frage, weshalb so viele Zuhälter und Prostituierte nach Hamburg gingen, nachdem sie aus Wien ver­trieben worden waren. Lehner entgegnete, das Rotlichtmilieu im Hafenviertel sei europaweit bekannt gewesen und aufgrund der Sprache sei es für die Vertriebenen naheliegend gewesen, dorthin zu flüchten. Abschliessend kam Philipp auf das Thema der Schuld zu sprechen und warf die Frage auf, inwiefern es sinnvoll sei, eine historische Schuld in eine ökonomische Schuld umzuwan­deln. Dabei bezog er sich auf das schweizerische Bankensystem, das sich in der Vergangenheit auf Kosten des globalen Südens bereichert und somit eine historische Schuld auf sich geladen habe, in der Gegenwart während der Schuldenkrise aufgrund der negativen Entwicklungen in der Welt­wirtschaft jedoch Rückzahlungen dieser Länder fordern könnte. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob ein Schuldenerlass ein geeigneter Beitrag zur Wiedergutmachung der historischen Schuld sei, oder ob dieser Ansatz im Vornherein zum Scheitern verurteilt sei.

 

Panelübersicht

Dolinsek, Sonja: Das Unsichtbarwerden des «Menschenhandels» als globales Problem von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.

Philipp, Gian Nicola: «Da bliibt dänn überhaupt alles im Dunkle»: Die Aktion Finanzplatz Schweiz – Dritte Welt und die Moralisierung von Schweizer Finanzgeschäften im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Lehner, Nora: Zuhälterei als Begleitkriminalität: zur Sichtbarmachung von Zuhältern in Wien ab den 1960er Jahren.

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Event
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organised by
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Event date
Place
Luzern
Language
German
Report type
Conference