(In)visible Sex: Prostitution, Sodomy, and Queerness in Early Modern Switzerland

Author of the report
Samira
Guyot
Universität Luzern
Citation: Guyot, Samira: (In)visible Sex: Prostitution, Sodomy, and Queerness in Early Modern Switzerland, infoclio.ch Tagungsberichte, 09.09.2025. Online: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0357>, Stand: 13.09.2025

Verantwortung: Thomas Lau

Moderation: Maurice Cottier

Referierende: Loraine Chappuis / Jann Kraus / Andrina Schulz

 

PDF-Version des Berichts

 

Neuere Untersuchungen von Primärquellen aus der frühen Neuzeit berichtigen das lange in der Ge­schichtswissenschaft vorherrschende Narrativ der Zurückhaltung und Unkenntnis bezüglich The­men wie Homosexualität, Prostitution und anderen nicht-normativen Sexualitäten und Sexualprak­tiken. Das Panel unter der Leitung von THOMAS LAU (Freiburg) thematisierte die Frage, wie nicht-normative Sexualpraktiken und Geschlechterverhalten in den Quellen verhandelt oder auch ver­schwiegen wurden und wie es Historikerinnen und Historikern gelingt, diese Themen in der moder­nen Geschichtsschreibung sichtbar zu machen.

 

LORAINE CHAPPUIS (Genf) führte die Zuhörenden nach Genf im 18. Jahrhundert und in eine Gesell­schaft, in der fast 40 Prozent aller Kriminalfälle aus Sexualdelikten bestanden. Die von ihr untersuch­ten Quellen, hauptsächlich Gerichtsurteile, zeichnen eine interessante und überraschende straf­rechtlich relevante Definition von Prostitution und illegalen Sexualpraktiken: Verfolgt wurden die De­likte Chappuis zufolge nicht etwa aufgrund des ausserehelichen Vergnügens per se oder weil die Frauen dafür bezahlt wurden. Problematisch sei dies erst geworden, wenn eine gewisse Öffentlich­keit und Regelmässigkeit zutage traten. Mit Öffentlichkeit meinte Chappuis nicht eine Form der Er­regung öffentlichen Ärgernisses, wie dies heute genannt wird, sondern die Visibilität des weiblichen Verhaltens an sich. Finanzielle und materielle Geschenke tauchen in den untersuchten Quellen oft im Zusammenhang mit Sex auf und wurden von den angeklagten Frauen als Begründung genannt, dass sie überhaupt eine sexuelle Beziehung eingegangen waren. Angeklagt wurden Frauen und Paare oft erst, als eine Schwangerschaft vorlag. Gaben die Angeklagten an, ihr Verhalten sei allein durch die finanziellen und materiellen Anreize zustande gekommen, wurde das Kind meist dem Vater zugewiesen. 75 Prozent der von Chappuis untersuchten Fälle endeten damit, dass der Vater das Kind anerkennen musste. Gab die Angeklagte jedoch zu, eine Prostituierte zu sein, wodurch ihr Verhalten als «intrinsisch moralisch fehlgeleitet» beurteilt wurde, sei sie deutlich härter bestraft worden. Mit­angeklagte Männer waren gemäss Chappuis dadurch oft motiviert, den Fokus auf das Verhalten der Frau zu lenken.

Ob eine Frau verurteilt oder überhaupt angeklagt wurde, hing stark von der Unsichtbarkeit ihres Ver­haltens ab, wie Chappuis am Beispiel der Genfer Prostituierten Suzanne-Louis Gay zeigte. Diese hatte drei nach damaliger Rechtsvorstellung «illegitime» Kinder, wurde aber dafür nie verurteilt. Kei­ner der Nachbarn hatte je ihr unrechtmässiges Verhalten beobachtet und daher auch nicht ge­mel­det. Der Sichtbarkeit von Prostitution in der Nachbarschaft kommt daher laut Chappuis mehr Be­deutung zu als der Prostitution selbst. Der heterosoziale Umgang von Frauen sei konstant unter die Lupe genommen worden. Unterhielt sich eine Frau beispielsweise allein mit mehreren Männern oder missachtete sie die nächtliche Ausgangssperre, konnte dies schwere Konsequenzen nach sich zie­hen. Zusammenfassend zeigte Chappuis anhand ihrer Quellen, dass es bei Verurteilungen nicht pri­mär um Sexualität, illegitime Sexpraktiken und Geld an sich ging, sondern um das weibliche Verhal­ten und die ihm zugeschriebenen Zeichen von Immoralität und Verderbtheit.

 

Im zweiten Vortrag über die Analyse der Tagebücher, Briefe, Notizbücher und anderer Dokumente der Engländerin Anne Lister erzählte JANN KRAUS (Fribourg) ein Stück Geschichte romantischer, lesbischer Beziehungen im England des frühen 19. Jahrhunderts. Lister war eine bekannte Persön­lichkeit der englischen Gesellschaft und unternahm viele Reisen, 1827 unter anderem in die Schweiz gemeinsam mit ihrer damaligen Partnerin. Die über 5.6 Millionen Worte umfassende Quellensamm­lung geniesst seit 2011 UNESCO-Weltkulturstatus und zog als Fern­sehserie in die Pop-Kultur ein («Gentlemen Jack», HBO). Kraus brachte Lister anhand dreier Dimen­sionen näher: Die persönliche Dimension umfasst Lister als nicht-gendernormativ bzw. als Frau, die für sehr «männlich» gehalten wurde. Aufgrund ihrer als ausgeprägt männlich wahrgenommenen Persönlichkeit erbte sie das grosse Anwesen ihrer Familie. Durch den eigenen, grossräumigen Besitz konnte Lister sich frei und ungesehen ihren Partnerinnen widmen, blieb durch ihren Wohlstand so­wie ihre schillernde, extro­vertierte Art aber genug im Rampenlicht, um Partnerinnen zu finden. Die zweite Dimension liegt für Kraus in dem, was Listers Quellen sichtbar machen – und was unsichtbar bleibt. Ihre Gewohnheit, extensiv Tagebuch zu schreiben, war öffentlich bekannt. Die Idee romanti­scher Beziehungen zwi­schen Frauen, die als Lebenspartnerinnen zusammenlebten, war laut Kraus zwar nicht unbekannt, bezog sexuellen Kontakt aber nicht mit ein. Lesbische Beziehungen wurden nicht konsequent ver­folgt, weshalb Lister ihr Leben mit sehr vielen Freiheiten führen konnte. Ihre sexuellen Beziehungen zu mehreren Frauen beschrieb sie sehr detailliert, wenn auch codiert. Ihre Verschlüsselungstechnik, um die expliziten Inhalte zu verbergen, war so ausgefeilt, dass sie kaum erkennbar war. Als dritte, bezeichnende Dimension hält Kraus Listers oddity fest. Das, was heute als Queerness bezeichnet würde, wird im Zusammenhang mit Beschreibungen von und über Lister «seltsam» genannt. Listers «Seltsamkeit» sei aber nicht unbedingt als negativ wahrgenommen wor­den, sondern habe sie inte­ressant gemacht.

Für Kraus steht im Zentrum der Analyse nicht das, was Lister schreibt, auch wenn diese Zeugnisse äusserst interessant und von Bedeutung für die Geschlechtergeschichte sind, so enthält ihr Werk beispielsweise die erste bekannte Dokumentation eines Menstruationszyklus (1808). Kraus in­teres­siert sich vielmehr für das, was Lister nicht schreibt. Was in ihren Dokumentationen und Selbst­be­schrieben nicht gesagt wird, bezeichnete Kraus als etwas Organisches, das erst sichtbar wird, wenn das Quellenmaterial studiert wird. Lister tat zwar ihren Unmut über Fragen bezüglich ihrer Weiblich­keit und Kommentare dazu kund, wenig sei aber bezüglich ihrer Reaktionen zu erfahren, wenn sie als männlich eingeordnet wurde, argumentierte Kraus. Listers Person sei in den Quellen sehr sicht­bar, durch das Ungesagte gleichzeitig aber auch unsichtbar. Ihr extensives Werk sei des­halb nicht nur wichtiges Zeugnis lesbischer Sexualbeziehungen, sondern auch für die Eigenwahr­nehmung und Beschreibung von Queerness und Sexualität in der frühen Neuzeit.

 

«Wo ist der Sex in der Geschichte der Sexarbeit?», fragt ANDRINA SCHULZ (Zürich) in ihrem Vortrag über das gleichzeitige Verschwinden und die anhaltende Bekanntheit der Prostitution im frühneu­zeitlichen Zürich. Der Frage, wie eben dieser Sex in den Quellen gefunden werden kann, wie über ihn gesprochen und geschrieben wurde, geht Schulz in ihrem Dissertationsprojekt nach. Über Sexprak­tiken wurde oft nicht geschrieben, wenn es um Sexarbeit oder Prostitution ging, führte Schulz aus. Die Geschichtsschreibung über Prostitution im frühneuzeitlichen Zürich beinhalte aufgrund fehlen­der Quellen auch keine historische Auseinandersetzung mit Sexualpraktiken. Im Zuge des 15. und 16. Jahr­hunderts wurde Prostitution mit den reformierten Sittengesetzen, unter denen jegliche vorehe­liche oder ausserehelichen Sexbeziehungen bestraft wurden, nicht mehr als eigener Tatbestand auf­ge­führt. Infolgedessen und reformatorischer Umschwünge wurden städtische Bordelle geschlossen. In historischen Arbeiten entstehe der Eindruck, dass in der Folge die organisierte Prostitution aus der Stadt Zü­rich bis zum 19. Jahrhundert verschwunden war. Wie Schulz zeigte, widerlegen zahlrei­che Gerichtsprotokolle und Quellen diesen Eindruck. Prozesse wegen Ehebruchs, Unzucht und Stö­rungsfällen im Zusammenhang mit Prostituierten seien an der Tagesordnung gewesen. Die Zeugin­nen und Zeugen lieferten nicht nur detaillierte Lärmbeschwerden, sondern auch explizite Schilde­rungen der Aktivitäten, die sie gehört und beobachtet hatten – diese Zeugnisse untersucht Schulz in ihrer Forschung. Hierzu gehört etwa auch der Fall von Caspar Bleuler 1566, der wegen «ärgerlichem Einzug» angeklagt wurde: «Das sy ettwan gsechen den küngen mit der metzen in die kamer gan, wüss aber nit ob sy „Zschoüri moüri“ gmacht or nit.»

Wie Schulz überzeugend darlegte, ist dieser Augenzeugenbericht nur einer von vielen, die zeigen, dass Sexarbeit und Sexpraktiken existierten und im reformierten Zürich der frühen Neuzeit durchaus beschrieben wurden. Die Bezeichnung der Frau, ob sie nun eine «gemeine Dirne», «seine Dirne» oder «seine Metz» war, erzählt nicht nur die Geschichte der Frauenbilder im frühmodernen Zürich, sondern auch vom breiten Spektrum der Sexarbeit und Sexpraktiken.

 

Die Referierenden zeigten auf, wie vernachlässigt Sexarbeit und Queerness in der Geschichtsschrei­bung der Moderne oft blieben. Mit den richtigen Prämissen und Offenheit gegenüber Quellenarten kann neues entdeckt und bekanntes ins richtige Licht gerückt werden.

 

 

 

Panelübersicht:

Loraine Chappuis: “This Girl is an Open Door”: The Visibility of Retributed Sex in Eighteenth-Century Geneva

Jann Kraus: Explicitly Encrypted: Queer Sexual Practices in the Diaries of 19th-Century Gentlewoman Anne Lister

Andrina Schulz: (In)visible Sex Work: Discussions of Common Women in Early Modern Neighborhood Complaints

 

 

Dieser Panelbericht ist Teil der infoclio.ch-Dokumentation zu den 7. Schweizerischen Geschichtstagen.
Event
Siebte Schweizerische Geschichtstage
Organised by
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte
Event date
-
Place
Luzern
Language
German
Report type
Conference