Verantwortung: Thomas Lau
Moderation: Maurice Cottier
Referierende: Loraine Chappuis / Jann Kraus / Andrina Schulz
Neuere Untersuchungen von Primärquellen aus der frühen Neuzeit berichtigen das lange in der Geschichtswissenschaft vorherrschende Narrativ der Zurückhaltung und Unkenntnis bezüglich Themen wie Homosexualität, Prostitution und anderen nicht-normativen Sexualitäten und Sexualpraktiken. Das Panel unter der Leitung von THOMAS LAU (Freiburg) thematisierte die Frage, wie nicht-normative Sexualpraktiken und Geschlechterverhalten in den Quellen verhandelt oder auch verschwiegen wurden und wie es Historikerinnen und Historikern gelingt, diese Themen in der modernen Geschichtsschreibung sichtbar zu machen.
LORAINE CHAPPUIS (Genf) führte die Zuhörenden nach Genf im 18. Jahrhundert und in eine Gesellschaft, in der fast 40 Prozent aller Kriminalfälle aus Sexualdelikten bestanden. Die von ihr untersuchten Quellen, hauptsächlich Gerichtsurteile, zeichnen eine interessante und überraschende strafrechtlich relevante Definition von Prostitution und illegalen Sexualpraktiken: Verfolgt wurden die Delikte Chappuis zufolge nicht etwa aufgrund des ausserehelichen Vergnügens per se oder weil die Frauen dafür bezahlt wurden. Problematisch sei dies erst geworden, wenn eine gewisse Öffentlichkeit und Regelmässigkeit zutage traten. Mit Öffentlichkeit meinte Chappuis nicht eine Form der Erregung öffentlichen Ärgernisses, wie dies heute genannt wird, sondern die Visibilität des weiblichen Verhaltens an sich. Finanzielle und materielle Geschenke tauchen in den untersuchten Quellen oft im Zusammenhang mit Sex auf und wurden von den angeklagten Frauen als Begründung genannt, dass sie überhaupt eine sexuelle Beziehung eingegangen waren. Angeklagt wurden Frauen und Paare oft erst, als eine Schwangerschaft vorlag. Gaben die Angeklagten an, ihr Verhalten sei allein durch die finanziellen und materiellen Anreize zustande gekommen, wurde das Kind meist dem Vater zugewiesen. 75 Prozent der von Chappuis untersuchten Fälle endeten damit, dass der Vater das Kind anerkennen musste. Gab die Angeklagte jedoch zu, eine Prostituierte zu sein, wodurch ihr Verhalten als «intrinsisch moralisch fehlgeleitet» beurteilt wurde, sei sie deutlich härter bestraft worden. Mitangeklagte Männer waren gemäss Chappuis dadurch oft motiviert, den Fokus auf das Verhalten der Frau zu lenken.
Ob eine Frau verurteilt oder überhaupt angeklagt wurde, hing stark von der Unsichtbarkeit ihres Verhaltens ab, wie Chappuis am Beispiel der Genfer Prostituierten Suzanne-Louis Gay zeigte. Diese hatte drei nach damaliger Rechtsvorstellung «illegitime» Kinder, wurde aber dafür nie verurteilt. Keiner der Nachbarn hatte je ihr unrechtmässiges Verhalten beobachtet und daher auch nicht gemeldet. Der Sichtbarkeit von Prostitution in der Nachbarschaft kommt daher laut Chappuis mehr Bedeutung zu als der Prostitution selbst. Der heterosoziale Umgang von Frauen sei konstant unter die Lupe genommen worden. Unterhielt sich eine Frau beispielsweise allein mit mehreren Männern oder missachtete sie die nächtliche Ausgangssperre, konnte dies schwere Konsequenzen nach sich ziehen. Zusammenfassend zeigte Chappuis anhand ihrer Quellen, dass es bei Verurteilungen nicht primär um Sexualität, illegitime Sexpraktiken und Geld an sich ging, sondern um das weibliche Verhalten und die ihm zugeschriebenen Zeichen von Immoralität und Verderbtheit.
Im zweiten Vortrag über die Analyse der Tagebücher, Briefe, Notizbücher und anderer Dokumente der Engländerin Anne Lister erzählte JANN KRAUS (Fribourg) ein Stück Geschichte romantischer, lesbischer Beziehungen im England des frühen 19. Jahrhunderts. Lister war eine bekannte Persönlichkeit der englischen Gesellschaft und unternahm viele Reisen, 1827 unter anderem in die Schweiz gemeinsam mit ihrer damaligen Partnerin. Die über 5.6 Millionen Worte umfassende Quellensammlung geniesst seit 2011 UNESCO-Weltkulturstatus und zog als Fernsehserie in die Pop-Kultur ein («Gentlemen Jack», HBO). Kraus brachte Lister anhand dreier Dimensionen näher: Die persönliche Dimension umfasst Lister als nicht-gendernormativ bzw. als Frau, die für sehr «männlich» gehalten wurde. Aufgrund ihrer als ausgeprägt männlich wahrgenommenen Persönlichkeit erbte sie das grosse Anwesen ihrer Familie. Durch den eigenen, grossräumigen Besitz konnte Lister sich frei und ungesehen ihren Partnerinnen widmen, blieb durch ihren Wohlstand sowie ihre schillernde, extrovertierte Art aber genug im Rampenlicht, um Partnerinnen zu finden. Die zweite Dimension liegt für Kraus in dem, was Listers Quellen sichtbar machen – und was unsichtbar bleibt. Ihre Gewohnheit, extensiv Tagebuch zu schreiben, war öffentlich bekannt. Die Idee romantischer Beziehungen zwischen Frauen, die als Lebenspartnerinnen zusammenlebten, war laut Kraus zwar nicht unbekannt, bezog sexuellen Kontakt aber nicht mit ein. Lesbische Beziehungen wurden nicht konsequent verfolgt, weshalb Lister ihr Leben mit sehr vielen Freiheiten führen konnte. Ihre sexuellen Beziehungen zu mehreren Frauen beschrieb sie sehr detailliert, wenn auch codiert. Ihre Verschlüsselungstechnik, um die expliziten Inhalte zu verbergen, war so ausgefeilt, dass sie kaum erkennbar war. Als dritte, bezeichnende Dimension hält Kraus Listers oddity fest. Das, was heute als Queerness bezeichnet würde, wird im Zusammenhang mit Beschreibungen von und über Lister «seltsam» genannt. Listers «Seltsamkeit» sei aber nicht unbedingt als negativ wahrgenommen worden, sondern habe sie interessant gemacht.
Für Kraus steht im Zentrum der Analyse nicht das, was Lister schreibt, auch wenn diese Zeugnisse äusserst interessant und von Bedeutung für die Geschlechtergeschichte sind, so enthält ihr Werk beispielsweise die erste bekannte Dokumentation eines Menstruationszyklus (1808). Kraus interessiert sich vielmehr für das, was Lister nicht schreibt. Was in ihren Dokumentationen und Selbstbeschrieben nicht gesagt wird, bezeichnete Kraus als etwas Organisches, das erst sichtbar wird, wenn das Quellenmaterial studiert wird. Lister tat zwar ihren Unmut über Fragen bezüglich ihrer Weiblichkeit und Kommentare dazu kund, wenig sei aber bezüglich ihrer Reaktionen zu erfahren, wenn sie als männlich eingeordnet wurde, argumentierte Kraus. Listers Person sei in den Quellen sehr sichtbar, durch das Ungesagte gleichzeitig aber auch unsichtbar. Ihr extensives Werk sei deshalb nicht nur wichtiges Zeugnis lesbischer Sexualbeziehungen, sondern auch für die Eigenwahrnehmung und Beschreibung von Queerness und Sexualität in der frühen Neuzeit.
«Wo ist der Sex in der Geschichte der Sexarbeit?», fragt ANDRINA SCHULZ (Zürich) in ihrem Vortrag über das gleichzeitige Verschwinden und die anhaltende Bekanntheit der Prostitution im frühneuzeitlichen Zürich. Der Frage, wie eben dieser Sex in den Quellen gefunden werden kann, wie über ihn gesprochen und geschrieben wurde, geht Schulz in ihrem Dissertationsprojekt nach. Über Sexpraktiken wurde oft nicht geschrieben, wenn es um Sexarbeit oder Prostitution ging, führte Schulz aus. Die Geschichtsschreibung über Prostitution im frühneuzeitlichen Zürich beinhalte aufgrund fehlender Quellen auch keine historische Auseinandersetzung mit Sexualpraktiken. Im Zuge des 15. und 16. Jahrhunderts wurde Prostitution mit den reformierten Sittengesetzen, unter denen jegliche voreheliche oder ausserehelichen Sexbeziehungen bestraft wurden, nicht mehr als eigener Tatbestand aufgeführt. Infolgedessen und reformatorischer Umschwünge wurden städtische Bordelle geschlossen. In historischen Arbeiten entstehe der Eindruck, dass in der Folge die organisierte Prostitution aus der Stadt Zürich bis zum 19. Jahrhundert verschwunden war. Wie Schulz zeigte, widerlegen zahlreiche Gerichtsprotokolle und Quellen diesen Eindruck. Prozesse wegen Ehebruchs, Unzucht und Störungsfällen im Zusammenhang mit Prostituierten seien an der Tagesordnung gewesen. Die Zeuginnen und Zeugen lieferten nicht nur detaillierte Lärmbeschwerden, sondern auch explizite Schilderungen der Aktivitäten, die sie gehört und beobachtet hatten – diese Zeugnisse untersucht Schulz in ihrer Forschung. Hierzu gehört etwa auch der Fall von Caspar Bleuler 1566, der wegen «ärgerlichem Einzug» angeklagt wurde: «Das sy ettwan gsechen den küngen mit der metzen in die kamer gan, wüss aber nit ob sy „Zschoüri moüri“ gmacht or nit.»
Wie Schulz überzeugend darlegte, ist dieser Augenzeugenbericht nur einer von vielen, die zeigen, dass Sexarbeit und Sexpraktiken existierten und im reformierten Zürich der frühen Neuzeit durchaus beschrieben wurden. Die Bezeichnung der Frau, ob sie nun eine «gemeine Dirne», «seine Dirne» oder «seine Metz» war, erzählt nicht nur die Geschichte der Frauenbilder im frühmodernen Zürich, sondern auch vom breiten Spektrum der Sexarbeit und Sexpraktiken.
Die Referierenden zeigten auf, wie vernachlässigt Sexarbeit und Queerness in der Geschichtsschreibung der Moderne oft blieben. Mit den richtigen Prämissen und Offenheit gegenüber Quellenarten kann neues entdeckt und bekanntes ins richtige Licht gerückt werden.
Panelübersicht:
Loraine Chappuis: “This Girl is an Open Door”: The Visibility of Retributed Sex in Eighteenth-Century Geneva
Jann Kraus: Explicitly Encrypted: Queer Sexual Practices in the Diaries of 19th-Century Gentlewoman Anne Lister
Andrina Schulz: (In)visible Sex Work: Discussions of Common Women in Early Modern Neighborhood Complaints